„Frieden ist ein Geschenk Gottes und ein Auftrag an die Menschheit“
Bonn/Limburg ‐ Am 6. November 2024 hat Bischof Dr. Georg Bätzing bei der Frankfurter Gesellschaft für Handel, Industrie und Wissenschaft gesprochen. Hier finden Sie den kompletten Vortragstext.
Aktualisiert: 12.11.2024
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Vortrag von Bischof Dr. Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, bei der Frankfurter Gesellschaft für Handel, Industrie und Wissenschaft e. V. am 6. November 2024 in Frankfurt a. M.
Friede diesem Haus. Die christliche Friedensbotschaft angesichts zunehmender Gewalt in der Welt
Sehr geehrte Damen und Herren,
herzlich danke ich für die erneute Einladung, nach 2017 noch einmal an Ihrer illustren Runde teilzunehmen und mit Ihnen ins Gespräch zu kommen. Ich sehe viele bekannte Gesichter, die ich auch in anderen Kontexten getroffen habe, und es ist mir Freude und Ehre zugleich, heute Abend bei Ihnen sein zu dürfen. Besonders danke ich Herrn von Bergen, der im Vorfeld die Organisation des Abends mit meinem Büro übernommen hat.
Frieden ist kostbar und keineswegs selbstverständlich. Das entdecken wir in den vergangenen drei Jahren noch einmal besonders, in denen der so weit entfernt scheinende Krieg uns näher gerückt ist. Und wir erleben eine Erosion internationaler Regime und Konventionen – insbesondere im Bereich der Menschenrechte und der Rüstung – sowie von Organisationen; dazu Krisen, die sich wechselseitig verschärfen: Pandemien, Klimawandel, die Zunahme autoritärer Regierungsstrukturen in weiten Teilen der Welt. Manche Wissenschaftler sprechen vom „Zeitalter der Polykrise“.
Zwei Konflikte sind uns besonders präsent:
Die völkerrechtswidrige Besetzung der Krim und der von Russland provozierte Bürgerkrieg im sogenannten Donbass seit 2014 haben sich seit dem 24. Februar 2022 zu einem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ausgeweitet. Wir sahen die barbarischen Kriegsverbrechen russischer Soldaten in Butscha, Mariupol und anderen Orten in der Ukraine beinahe live in den Medien. Die Ostgrenze der Europäischen Union und der NATO ist bedroht wie seit den 80er Jahren nicht mehr, deutsche Soldaten sind dauerhaft ins Baltikum verlegt und das Wort „kriegsbereit“ ist zurück im Sprachgebrauch von Politikern und im Bevölkerungsschutz.
Auch der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 und das damit verbundene Aufflammen der Gewalt im Nahen Osten – das bis heute anhält – halten uns in Atem. Hier in Frankfurt lebt eine der größten jüdischen Gemeinden in Deutschland, und ich konnte im Gespräch erfahren, wie sehr der Konflikt deutsche Jüdinnen und Juden belastet. Viele der hier Lebenden haben Freunde oder Angehörige unter den beinahe 1.200 Toten und mehr als 5.400 Verletzten zu beklagen. Bei der militärischen Reaktion der israelischen Armee im Gazastreifen und im Libanon wurden laut dem Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte mehr als 120.000 Menschen, vor allem Frauen und Kinder, verletzt oder getötet[1]. Ein Ende der Gewalt oder gar eine Lösung für die Koexistenz der Völker im Nahen Osten ist nicht in Sicht.
Ich könnte noch einige Kriege und Konflikte aufzählen, unter ihnen den „forgotten war“ im Partnerland unseres Bistums Limburg – Kamerun. Bei vielen zeigt sich die Gemeinsamkeit, dass Fraktionen innerhalb des Konflikts sich stärker als früher auf Identitäten beziehen, ob kulturell, national, ethnisch oder religiös. Wir erleben, wie Identitätsstrukturen, die Halt geben sollen, genutzt werden, um sich abzugrenzen, Feindbilder aufzubauen und völkischen und nationalistischen Ideologien Raum zu schaffen – im Äußeren wie im Inneren. Eine Strategie, die nicht neu ist, sondern uns Deutschen aus der Geschichte vertraut und aus der Perspektive der Verantwortung zu großer Wachsamkeit rufen muss.
Frieden ist ein hohes Gut, dessen wahren Wert wir erst zu schätzen beginnen, wenn er bedroht ist. Und Menschen haben ihre Ideen und Pläne, wie Frieden gelingen kann. „Ich bringe der Welt Frieden“, versprach ein Mann. Sie können sich denken, wen ich meine – so Donald Trump im Telefonat mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Einmal abgesehen von der übersteigerten Selbsteinschätzung dieses Politikers liegt natürlich auch Wahrheit in der Annahme, dass jeder Mensch seinen Beitrag zu einer friedlicheren Welt leisten kann.
Frieden ist ein originäres Projekt des Christentums – und Christinnen und Christen sind dem Frieden verpflichtet.
„Wenn ihr in ein Haus kommt, so sagt als Erstes: Friede diesem Haus“ (Lk 10,5). Jesu Anweisung an die Jünger bindet das Verhalten an die Botschaft vom Reich Gottes, das bereits angebrochen ist und der Versöhnung und dem Frieden der Menschen untereinander und mit Gott Raum schafft.
„Friede diesem Haus. Die christliche Friedensbotschaft angesichts zunehmender Gewalt in der Welt.“ Das Thema dieses Abends ist inspiriert vom Friedenswort der deutschen Bischöfe[2], das im Februar dieses Jahres veröffentlicht wurde. Ich möchte Ihnen einige Kerngedanken dieses Dokuments vorstellen. Es ist ein Beitrag, der seine Relevanz in einer Zeit globaler Unsicherheiten, sozialer Spannungen und ökologischer Krisen erweisen will.
Es gibt zahlreiche Versuche „Frieden“ zu definieren. Die einfachste Definition lautet: „Frieden ist die Abwesenheit von Krieg.“ Das mag der kleinste gemeinsame Nenner sein, aber es greift viel zu kurz. Frieden ist mehr und größer: Friede ist der Zustand eines umfassenden Wohlbefindens, in dem Gerechtigkeit und Solidarität die Basis bilden. Frieden ist zugleich ein Geschenk Gottes und ein Auftrag an die Menschheit. Und der erfordert unser ständiges Bemühen, diesen Zustand erreichen und bewahren zu wollen. In unserer eigenen Gesellschaft und darüber hinaus.
Christinnen und Christen sind aber keineswegs Utopisten: Gewalt wird unter den Bedingungen dieser Welt – und dazu zählt aus gläubiger Perspektive nicht zuletzt die Sündhaftigkeit des Menschen – Teil der Realitäten bleiben. Es mag sogar Situationen geben, in denen Gewalt ein legitimes Mittel ist. Christliche Friedensethik bedeutet, dem Gebot der Liebe folgend alles Erdenkliche zu tun, um Gewalt strukturell zu überwinden. Daher betonen wir, dass die Diplomatie das erste Mittel sein muss, um Krisen und Konflikte zu überwinden. Und dennoch hat jeder Staat das Recht, einen Angriffskrieg abzuwehren und hierfür auch die Hilfe seiner Verbündeten in Anspruch zu nehmen. Wir haben seit Februar 2022 in der Bischofskonferenz immer wieder über die ethischen Herausforderungen von Waffenlieferungen an die Ukraine gerungen und wir kamen zur gemeinsamen Überzeugung, dass eine solche Unterstützung mit unseren Werten vereinbar ist – wenn es auch schmerzlich auszuhalten ist. Stets ist jedoch das Gebot der Verhältnismäßigkeit zu wahren.
Schnelle und nachhaltige Lösungen für Konflikte großen Ausmaßes gibt es nicht. Und doch dürfen wir nicht resignieren angesichts von (zunehmender) Gewalt oder uns gar damit abfinden. Es gilt, Gewalt zurückzudrängen, zu ächten und zu überwinden. Dafür braucht es vor allem wieder verlässliche und vertrauenswürdige internationale Regime – im Bereich des Klimaschutzes, der Rüstungsregulierung und zum Aufbau gerechterer Wirtschaftsbeziehungen.
Die These vom „Demokratischen Frieden“ ist wohl zu wenig komplex, vielmehr sind es die engen Verflechtungen in Handel und Wirtschaft der demokratisch regierten Staaten unserer Zeit sowie die gemeinsame Einbindung in internationale Organisationen, die den Frieden bewahren. Unwiderlegbar ist freilich, dass funktionierende Demokratien den Frieden eher fördern als es autoritäre und autokratische Systeme tun[3]. Den Trend zu mehr autoritärer Politik erleben wir leider nicht nur in anderen Ländern, sondern auch bei uns.
Dass state building (und noch mehr nation building) nicht einfach ist, zeigen uns die Beispiele im Balkan und auch in Afghanistan. Der moderne Staat europäischer Prägung ist eben das Ergebnis einer jahrhundertelangen, vielschichtigen Entwicklung. Er lässt sich nicht einfachhin auf andere Kulturkreise übertragen. Demokratisierung muss vielmehr die gewachsenen kulturellen Gegebenheiten berücksichtigen. Jede Kultur hat eigene Erfahrungen in sozialer Konfliktregulierung und eigene Gerechtigkeitsvorstellungen. Als gemeinsame Klammer dürfen freilich die Menschenrechte gelten, als „wesentliche Voraussetzungen für minimale menschliche Sicherheit und Frieden“[4].
Für mich ist ein Gedanke besonders bedeutsam, wenn wir an eine friedlichere Zukunft denken: „Kriege und Gewalt nähren sich häufig aus unversöhnten Konflikten, die in die Vergangenheit zurückreichen“[5]. Versöhnung, das ist ein Begriff, der selten vorkommt in den Berichten über Friedensbemühungen. In seinem zweiten Brief an die Korinther spricht Paulus von einem „Dienst der Versöhnung“ (2 Kor 5,18). Gott hat uns Menschen durch Christus mit sich versöhnt. Daher sehe ich diesen Dienst der Versöhnung als einen besonderen christlichen Dienst und Auftrag an der Menschheit. Versöhnungsprozesse bedürfen der solidarischen Hinwendung zu den Opfern, der kritischen Auseinandersetzung mit den Tätern und auch mit denen, die zuschauten. Unterschiedliche Erfahrungen und Perspektiven miteinander ins Gespräch bringen, Widerständen begegnen und eine Haltung der Geduld sind Grundlagen von Versöhnungsprozessen, denn Heilung braucht Zeit. Versöhnung muss erbeten und gewährt werden. Deutschland hat mit solchen Prozessen der Versöhnung gute Erfahrungen gemacht, denken Sie an die Beziehungen zu Israel, zu unseren Nachbarn in Polen, in den Benelux-Staaten und in Frankreich. Die große Gefahr liegt darin, Versöhnung im Schatten der beiden fürchterlichen Weltkriege heute als „erledigt“ anzusehen. Dabei spüren wir weiterhin die Anwesenheit des Vergangenen. Der oberflächliche Anschein von Normalität führt leicht weg von den Wunden der Menschen und behindert den Prozess einer langfristigen Versöhnung.
Friedenshandeln wird die Strukturen und konkreten Geschichten der Gewalt nachhaltig ins Wort bringen, geduldig und selbstkritisch. Tiefe Versöhnung und wahrer Frieden sind nicht zu verwechseln mit kurzfristigen Erfolgen wie dem „Einfrieren eines Konflikts“ oder einem Waffenstillstand. Dies sind vielleicht erste Schritte. Aber es gilt, weiterzuarbeiten, nicht beim ersten Schritt zu verharren, sondern eine langfristige Auseinandersetzung mit Gewalt- und Friedensproblemen anzustreben.
Einen letzten Gedanken möchte ich noch gerne entfalten: „Synodalität“ ist momentan eines der großen Projekte in der katholischen Kirche. Es ist noch keine zwei Wochen her, da trafen sich in Rom Bischöfe, Priester und Laien – Frauen und Männer aus allen Teilen der Welt –, um über eine synodale Kirche zu beraten, wie sie Papst Franziskus vorschwebt. Dabei geht es um das Einüben einer neuen Kultur kirchlicher Gemeinschaft auf der Basis gegenseitigen Zuhörens und Ernstnehmens; es geht darum, dem hierarchischen Leitungsprinzip der katholischen Kirche ein partizipatives Element als heilsames Korrektiv zur Seite zu stellen. Dieser neue Stil im Miteinander auf allen Ebenen der Kirche kann eine neue Dynamik für den ureigenen Sendungsauftrag der Kirche entfachen. Darin stimme ich Papst Franziskus ganz und gar zu.
Wir könnten sogar, so hat es bei der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz Prof. Dr. Martin Kirschner aus Eichstätt gemeint, mit einem synodalen Stil einen Beitrag zu einem alternativen Lösungsansatz angesichts der vielen konfliktträchtigen Problemlagen weltweit anbieten[6]. Prof. Kirschner verwies darauf, dass heute drei Lösungsstrategien gesellschaftlich vorherrschen: eine technokratische, die auf Lösung unserer Probleme durch weiter zu entwickelnde Technologien setzt, eine weitere durch Netzwerkbildung und parteiliche Einflussnahme, die aber Grenzlinien und Polarisierungen zunehmend verschärft, und leider Gottes die kriegerische Strategie, die den Konfliktgegner zu beherrschen und schlichtweg auszulöschen versucht.
Die katholische Kirche ist die größte, weltweit verwurzelte Religionsgemeinschaft, wir umfassen verschiedenste Strömungen, Kulturen und politische Lager und wir spiegeln auch die Konflikte dazwischen wieder. Wenn es uns in der Kirche gelänge, mit Synodalität – die mit gegenseitigem Zuhören und Ernstnehmen beginnt – einen neuen Stil in unserem Miteinander zu erproben, eine Kultur der konsensualen Verständigung hinweg über Lagergrenzen zu entwickeln, könnte das durchaus ein Beitrag zur Verständigung in der säkularen „Polykrise“ sein, insofern dieser Stil auf integrale Umkehr und kooperatives Handeln abzielt. In vielerlei Hinsicht agiert die Katholische Kirche durch ihre Vertreterinnen und Vertreter als Vermittlerin und Brückenbauerin zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, national und international. Bereits jetzt leisten kirchliche Mitarbeitende überall in der Welt wertvolle Dienste für den Frieden im Bereich der Bildung, der Entwicklungsarbeit und durch spirituelle Begleitung. Wir werden diesen Dienst umso besser leisten können, je mehr es uns auch ad intra gelingt, ein Raum des Dialogs und der friedlichen Austragung von Differenzen und Konflikten zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Überzeugung zu werden.
„Friede diesem Haus“ – dieser Gruß ist im biblischen Verständnis weit mehr als ein Wunsch. Er schenkt, was er zusagt. Er bringt bereits, wozu er ermutigt. Und das bedeutet: Frieden ist möglich, wenn wir uns gemeinsam dafür einsetzen. Ganz konkret heißt das, die zivilgesellschaftlichen und politischen Möglichkeiten nicht gering zu schätzen, uns einzubringen mit Ideen und Lösungsvorschlägen, auf Missstände aufmerksam zu machen und den Erwartungsdruck auf Entscheidungsträger zu erhöhen, um auf diese Weise Veränderungen zu bewirken. Indem wir uns aktiv in die Friedensarbeit einbringen, können wir einen bedeutenden Beitrag zur Förderung des Friedens in einer gerechteren Welt leisten. Alles Große beginnt mit dem ersten kleinen Schritt. Dazu will das Friedenswort der Bischöfe ermutigen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Über den Autor
Dr. Georg Bätzing ist Bischof von Limburg und Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz.
Fußnoten
[1] “We must urgently find our way back to peace", says High Commissioner Volker Türk as he presents his global update to the 56th session of the Human Rights Council; in: ohchr.org. Hoher Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, 18. Juni 2024, abgerufen am 18. Oktober 2024.
[2] „Friede diesem Haus“. Friedenswort der deutschen Bischöfe (FdH), in: Die deutschen Bischöfe Nr. 113 (Bonn 2024).
[3] Vgl. Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Friedrich Nicolovius (Königsberg 1795). (Hier online verfügbar, Anm. d. Red.).
[4] FdH 188, S. 109.
[5] FdH 174, S. 103.
[6] Vgl. „Theologe: Synodalität kann Lösung für Krisen in Kirche und Welt sein“, in: katholisch.de, abgerufen am 22.10.24 (https://www.katholisch.de/artikel/56755-theologe-synodalitaet-kann-loesung-fuer-krisen-in-kirche-und-welt-sein).
Quelle: Pressemitteilung der Deutschen Bischofskonferenz vom 07.11.2024.