
Forscher Marc von Boemcken: Mit Russland im Gespräch bleiben
Berlin/Bonn ‐ Ukraine und Gaza sind keine Einzelfälle: Die Zahl der Kriege und Konflikte hat in den vergangenen Jahren zugenommen. Aufrüstung allein wird die Probleme nicht lösen, sagt Experte Marc von Boemcken im Interview.
Aktualisiert: 12.06.2025
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„Frieden retten!“ lautet der Titel des diesjährigen Friedensgutachtes, dass die vier führenden deutschen Friedens- und Konfliktforschungsinstitute am heutigen Montag in Berlin vorgestellt haben. Wie aber lässt sich dieser Aufruf umsetzen? Darüber sprach die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) mit Marc von Boemcken vom BICC. Das Internationalen Zentrum für Konfliktforschung Bonn ist eines der vier am Friedensgutachten beteiligten Einrichtungen.
Frage: Herr von Boemcken, der Frieden ist auf dem Rückzug, lautet eine Botschaft des Friedensgutachtens. Was bereitet Ihnen als Experte die meisten Sorgen – abgesehen vom Krieg in der Ukraine?
Marc von Boemcken: Die Zahl der kriegerischen Auseinandersetzungen nimmt immer weiter zu. Die Kriege in der Ukraine und in Israel/Gaza dominieren hierzulande die Berichterstattung. Sie sind aber nur ein Teil des globalen Konfliktgeschehens, das zum Beispiel ebenso von dschihadistischen Gruppen im Sahel oder kriminellen Banden in Lateinamerika geprägt ist.
Der Bürgerkrieg im Sudan hat die derzeit schlimmste humanitäre Katastrophe ausgelöst. Weltweit befinden sich 122 Millionen Menschen auf der Flucht - ein bitterer Rekord. Zur gleichen Zeit stehen liberale Demokratien mit dem Rücken an der Wand, die regelbasierte internationale Ordnung gerät ins Wanken. Politiker wie Trump oder Putin haben ein neoimperialistisches Weltverständnis, in dem sich die Großen einfach nehmen können, was sie wollen. Vor dem Hintergrund dieser hochgefährlichen, konfrontativen Dynamik müssen sich Deutschland und Europa neu orientieren.
Frage: Wo sehen Sie bei der allgemeinen Aufrüstung Ansätze zu so etwas wie einer Friedenspolitik und hat die Suche nach Frieden derzeit überhaupt eine echte Chance?
Von Boemcken: Bei aller Notwendigkeit, die militärischen Fähigkeiten Europas zu stärken, ist es wichtig, sich in dieser Lage nicht allein auf militärische Lösungen, Verteidigungsfähigkeit und Abschreckung zu konzentrieren. Ein Wettrüsten gegen Russland wird uns nicht sicherer, sondern eher unsicherer machen, das klassische Sicherheitsdilemma. Es gilt bereits jetzt darüber nachzudenken, wie eine neue europäische Friedensordnung aussehen könnte - auch wenn diese noch weit in der Zukunft liegt. Einige Grundsteine können aber vielleicht schon gelegt werden.
Frage: Welche sind das?
Von Boemcken: Dazu gehört, mit Russland im Gespräch zu bleiben und etwa Möglichkeiten der Rüstungskontrolle auszuloten. Wie auch schon zu Zeiten des Kalten Krieges: wie kann die Menge bestimmter Waffensysteme auf beiden Seiten begrenzt werden? Wie lassen sich diese Begrenzungen gegenseitig verifizieren?
Möglichkeiten der Rüstungskontrolle ausloten
Frage: Immer wieder fällt die Jahreszahl 2029 mit Blick auf Russland, das spätestens dann zumindest theoretisch einen Angriff auf ein anderes europäisches Land ausführen könnte. Was halten Sie von solchen Zahlen und Prognosen?
Von Boemcken: Ich kenne keine seriöse Studie, die auf der Grundlage einer nüchternen und sachlichen Analyse der Fähigkeiten beider Seiten einen möglichen russischen Angriff in vier Jahren prognostiziert. Da wäre ich sehr vorsichtig. Wir müssen die militärische Bedrohung, die von Russland ausgeht, natürlich ernst nehmen. Europa braucht die Fähigkeiten, um einen solchen Angriff wirksam abschrecken und zur Not auch abwehren zu können. Wir dürfen aber auch nicht in einen Panikmodus verfallen, der unsere Sicht auf die Dinge verengt, allein militärische Handlungsoptionen in den Blick nimmt, nach grenzenloser Aufrüstung ruft und damit womöglich einer gefährlichen Eskalationsdynamik Vorschub leistet.
Frage: Europa soll für seine Sicherheit und Verteidigung sorgen und zugleich am Ziel des Friedens festhalten. Wie kann das gehen - ohne andere große Herausforderungen der Menschheit, wie zum Beispiel den Kampf gegen den Klimawandel, preiszugeben?
Von Boemcken: Das Problem ist ja: die zusätzlichen Ressourcen, die wir für das Militär verwenden, fehlen dann an anderer Stelle. Und die Bedrohung Russlands ist eben nicht die einzige große Herausforderung, vor der wir stehen. Es stört mich ein wenig, dass es in der öffentlichen Debatte vor allem immer um die Erhöhung der Militärausgaben geht - als sei das Problem schon damit gelöst, dass wir jetzt soundsoviele weitere Milliarden in die Bundeswehr stecken.
Frage: Worum sollte es stattdessen gehen?
Von Boemcken: Viel wichtiger ist doch, dass Verteidigungsausgaben auch möglichst effizient verwendet werden, um genau die Fähigkeiten zu erlangen, die wir brauchen. Tatsächlich ist die Summe der Militärausgaben aller europäischer Nato-Staaten deutlich höher als die russischen Investitionen in den Militärsektor. Der große Unterschied ist: in Europa sind diese Ressourcen auf mehrere Einzelhaushalte verteilt, jeder Staat kocht hier noch immer sein eigenes Süppchen. Das ist sowohl militärisch wie auch wirtschaftlich hochgradig ineffizient. Vielleicht braucht es in Europa nicht an erster Stelle mehr Geld für Rüstung, sondern vor allem eine viel engere rüstungspolitische Zusammenarbeit.

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