Christliche Friedensethik

Pazifismus oder Waffen – ein konstruierter Widerspruch?

Berlin ‐ Die Debatte über den russischen Angriff auf die Ukraine zeigt: Selbst innerhalb der katholischen Kirche gibt es unterschiedliche Sichtweisen auf den Einsatz militärischer Gewalt. Doch die Positionen überschneiden sich.

Erstellt: 15.09.2023
Aktualisiert: 14.09.2023
Lesedauer: 
Von Dr. Markus Patenge, Referent der Deutschen Kommission Justitia et Pax

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat das furchterregende Gespenst des Krieges zurück nach Europa gebracht. Selbstverständlich war der Krieg auch zuvor schon eine bittere Realität dieser Welt. Doch hat dieser eklatante Bruch des Völkerrechts den Krieg in eine bedrohliche Nähe zu uns gerückt.

Innerhalb kürzester Zeit erlebten und erleben wir in Deutschland eine Debatte um Waffenlieferungen, Verteidigungsfähigkeit und Abschreckung, wie wir sie schon lange nicht mehr gesehen haben. Wie in vielen anderen gesellschaftlichen Diskursen werden auch hier die Positionen extremer, die Töne schriller und eine Vermittlung scheint kaum mehr möglich zu sein. Spätestens seit der ersten Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zum Krieg in der Ukraine „Der Aggression widerstehen. Den Frieden gewinnen. Die Opfer unterstützen“ ist auch die katholische Kirche in Deutschland Teil dieser Debatte und erfährt ähnliche Mechanismen.

Kann Gewaltanwendung legitim sein?

Die Suche nach der angemessenen Reaktion auf die russische Aggression offenbart eine andauernde Spaltung innerhalb der katholischen Friedensethik, die – bei allen vorhandenen Nuancierungen – zwei Positionen umfasst. Auf der einen Seite stehen diejenigen Vertreterinnen und Vertreter, die militärische Gewalt als äußerstes Mittel der Gefahrenabwehr und Selbstverteidigung als legitim ansehen. Auf der anderen Seite steht ein umfassender Pazifismus, der jegliche Form der Gewalt kategorisch ablehnt und als unbiblisch und vor allem als unjesuanisch abqualifiziert.

Schild: Den Frieden gewinnen auf einer Friedensdemonstration auf dem Stuttgarter Schlossplatz
Bild: © dr/weltkirche.de

Banner auf einer Friedensdemonstration am 8. April 2023 in Stuttgart

Dabei wird freilich oft übersehen, dass beide Positionen viele Gemeinsamkeiten haben. So berufen sich beide auf jahrhundertealte christliche Traditionen, sehen Gewalt als grundlegendes Übel in der Welt an und zielen letztlich auf eine Überwindung der Gewalt. Vor allem aber ist beiden Positionen die Überzeugung gemeinsam, dass ein wahrer und dauerhafter Friede nicht durch Waffengewalt, sondern nur durch Diplomatie, Gespräch und Begegnung erreicht werden kann.

Pazifistische Grundhaltung

Trotz dieser Gemeinsamkeiten wird aber oftmals der Eindruck erweckt, als würden sich beide Positionen ausschließen und man müsste sich für eine Seite entscheiden: entweder Waffen oder Pazifismus. Entweder Gewalt oder Verhandlungen. Doch ist diese Haltung grundfalsch. Denn wir haben es hier nicht mit absoluten Gegensätzen zu tun, vielmehr schließt eine pazifistische Grundhaltung konditionale Gewaltlegitimierung nicht aus und wer unter gewissen Umständen Gewalt als gerechtfertigt ansieht, muss seine pazifistische Gesinnung nicht aufgeben. Vielmehr müssen beide Perspektiven zusammengedacht und zusammengeführt werden, damit die katholische Friedensethik ihre volle Wirkmacht entfalten kann.

Explodiertes Haus In Borodyanka
Bild: © Ales Uscinov/pexels

Explodiertes Haus In Borodyanka

Hierzu ist es aber wichtig, dass drei Grundannahmen
geteilt werden:

  1. Wir Christen sind davon überzeugt, dass mit dem Kommen Jesu Christi das Reich Gottes bereits angebrochen ist. Diese Zusage und Hoffnung motivieren nicht nur unser Handeln, sondern das Gottesreich ist auch unser gemeinsames Ziel. Aber wir leben eben noch nicht in diesem Reich. Vielmehr leben wir in einer Welt, die zutiefst von der Sündhaftigkeit der Menschen geprägt ist. Diese Realität, die oftmals eine gewaltvolle ist, gilt es anzunehmen; mit ihr müssen wir umgehen. Die kirchliche Friedensethik steht somit zwar im Dienst des Reiches Gottes – aber eben inmitten unserer Welt.

  2. Wenn wir uns derart auf die Probleme der Welt einlassen und insbesondere die Gewaltphänomene ernst nehmen, haben wir es nur allzu oft mit moralischen Dilemmata zu tun. Es ist eine Illusion, dass es angesichts komplexer Problemlagen einfache und vor allem moralisch einwandfreie Lösungen gibt. Es mag bessere oder schlechtere Antworten geben, aber es wird keine Antwort geben, die nicht zumindest zu einem gewissen Grad mit Schuld behaftet ist.

  3. In Kriegen sterben Menschen – Männer, Frauen und Kinder. Deswegen sollte ein Krieg nicht dazu instrumentalisiert werden, um ideologische Kämpfe auszutragen oder bestimmte Ideen zu verteidigen. Die erste Aufgabe muss darin bestehen, an der Seite der Opfer zu stehen und Menschen zu schützen.

Militärische Mittel manchmal notwendig

Die Kunst besteht also darin, eine Antwort auf das Problem der Gewalt zu finden, ohne sie zu legitimieren. Gewalt kann aus kirchlicher Perspektive nie per se gerechtfertigt sein, allenfalls in der Form von Gegengewalt, um einem gewalttätigen Aggressor aufzuzeigen, dass der gewaltvolle Weg nicht von Erfolg gekrönt ist. Insofern ist die christliche Friedensethik fundamental gewaltkritisch ausgerichtet. Gewalt ist kein legitimes Mittel der Interessendurchsetzung oder gar der Konfliktlösung. Unmissverständlich macht die Friedensethik deutlich, dass unter allen Umständen der Primat der zivilen Konfliktbearbeitung gilt. Und doch kann es manchmal notwendig sein, zu militärischen Mitteln zu greifen, z. B. wenn ein Angreifer selbst militärische Gewalt ausübt oder in systematischer Weise schwerste Menschenrechtsverletzungen begeht. Wann immer ein solcher Fall eintritt, können wir zwar zu Recht von einer Niederlage der Menschheit sprechen, aber die Gegengewalt steht doch im Dienst der Gewalteindämmung und des Friedens.

Haltung der Gewaltfreiheit

Widerspricht diese Position nun aber dem jesuanischen Gebot der Gewaltfreiheit? Nein! Denn Gewaltfreiheit ist zuerst eine innere Einstellung. So hat die Deutsche Kommission Justitia et Pax festgehalten: Diese Haltung widersetzt sich vor allem dem Sog völliger Verfeindung, den jeder Krieg ausübt. Sie beantwortet Hass nicht mit Hass, sie verlangt nicht nach Rache, bleibt auch bei Anfeindungen friedfertig, um fähig zu sein, jede Gelegenheit ergreifen zu können, Krieg zu vermeiden oder zu beenden (Erklärung der Deutschen Kommission Justitia et Pax zum Krieg gegen die Ukraine vom 26. März 2022).

Selbst wer also unter gewissen Umständen Gewalt als legitimierbar ansieht, vermag gewaltkritisch zu bleiben, indem er oder sie sich der verhängnisvollen Anziehungskraft der Gewalt entzieht und selbst im Gewalthandeln stets auf eine friedliche und gewaltfreie Lösung des Konflikts abzielt.

Jahresbericht Weltkirche 2022

Dieser Text erschien zuerst im Jahresbericht Weltkirche 2022. Informationen und Downloads zum Jahresbericht Weltkirche finden Sie hier!

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