Flüchtlingsbischof Heße zu Migrationspolitik und Kirchenasyl

„Die völkerrechtswidrigen Pushbacks sind ein humanitärer Skandal“

Athen/Istanbul ‐ In Griechenland und der Türkei hat sich Erzbischof Stefan Heße über das Schicksal von Schutzsuchenden informiert. Auch auf Lesbos sprach er mit Geflüchteten. Von deren Berichten zeigte er sich erschüttert.

Erstellt: 09.09.2023
Aktualisiert: 17.05.2024
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Von Gottfried Bohl (KNA)

Der katholische Flüchtlingsbischof Stefan Heße warnt davor, die Aufnahme von Flüchtlingen in erster Linie als Bedrohung darzustellen. Wer das tue, spiele den Populisten in die Karten, sagt er im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Der Hamburger Erzbischof ist Sonderbeauftragter für Flüchtlingsfragen und leitet die Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz. Seit Donnerstag war er unterwegs zu einer „Solidaritätsreise“ in Griechenland und der Türkei. Dort hat er Flüchtlingslager besucht und mit Vertretern von Politik und Hilfsorganisationen gesprochen.

Frage: Erzbischof Heße, Sie haben sich in Griechenland und der Türkei über die Situation der Flüchtlinge informiert. Unter anderem waren Sie im Lager Mavrovouni auf der Insel Lesbos. Wie geht es den Menschen dort?

Heße: Ich konnte dort mit schutzsuchenden Familien aus Afghanistan sprechen. Die Verzweiflung der Menschen war mit Händen zu greifen. Ihre Berichte und Erfahrungen waren erschütternd. Viele haben auf der Flucht Gewalt erfahren und sind traumatisiert. Trotz der dramatischen Lage in ihrem Land werden viele Asylgesuche von Afghaninnen und Afghanen abgelehnt. Deshalb macht sich bei ihnen eine große Perspektivlosigkeit breit. Teilweise fehlt es im Lager auch an ganz grundlegenden Dingen wie Nahrung und Gesundheitsversorgung, von Bildungsmöglichkeiten für Kinder ganz zu schweigen.

Frage: Wer hilft den Geflüchteten? Und wie?

Heße: Ohne das großartige Engagement von Nichtregierungsorganisationen würde es nicht gehen. Sie leisten medizinische und psychologische Hilfe, kümmern sich um die Nahrungsmittelversorgung von Menschen, die im Lager nichts zu essen bekommen, beraten die Schutzsuchenden auf dem Weg durch den bürokratischen Dschungel. Im Lager selbst haben wir vor allem Aktivitäten von Caritas Hellas näher kennengelernt. Man konnte spüren, wie wichtig diese Arbeit für die Not leidenden Menschen ist.

Stefan Heße, Erzbischof von Hamburg, am 4. August 2023 auf dem Weltjugendtag im Parque Eduardo VII. in Lissabon (Portugal).
Bild: © Julia Steinbrecht/KNA

Frage: Wenn Geflüchtete an den EU-Grenzen ankommen, müssen sie die Möglichkeit haben, einen Asylantrag zu stellen. Dieses Recht wird nach Ansicht vieler Menschenrechtler oft verletzt. Es gebe auch immer mehr Pushbacks, bei denen Boote in türkische Gewässer zurückgeschleppt und dort zum Teil ohne Motor abgesetzt würden. Was haben Ihre Gesprächspartner berichtet zur Situation?

Heße: Von mehreren Seiten wurde auf sehr drastische Weise geschildert, wie Schutzsuchende in türkische Gewässer zurückgeschleppt werden. Dies wurde auch von Menschen berichtet, die das sichere Ufer bereits erreicht hatten. Die völkerrechtswidrigen Pushbacks sind ein humanitärer Skandal und müssen dringend gestoppt werden.

Frage: Es heißt, viele Menschen säßen letztlich in Griechenland oder im Grenzbereich fest. Während des Asylverfahrens oder nach Ablehnung des Antrags dürften sie nicht weiterreisen. Wie haben Sie das erlebt? Und was müsste getan werden?

Heße: Es ist tatsächlich so: Für viele Schutzsuchende an den EU-Außengrenzen gibt es kein Vor und kein Zurück. Die Verfahren ziehen sich teilweise über mehrere Monate, wenn nicht sogar Jahre hin, die Gründe für die Verweigerung eines Schutzstatus sind oft nicht nachvollziehbar. Wir brauchen dringend eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, die einem besseren Flüchtlingsschutz und einer größeren Solidarität zwischen den EU-Mitgliedstaaten dient.

„Die völkerrechtswidrigen Pushbacks sind ein humanitärer Skandal und müssen dringend gestoppt werden.“

—  Zitat: Erzbischof Stefan Heße

Frage: Was müsste konkret verbessert werden?

Heße: Große Lager in den Erstaufnahmestaaten, wo Menschen teils unter haftähnlichen, oft menschenunwürdigen Bedingungen monatelang ausharren müssen, sind keine Lösung. Notwendig wäre stattdessen eine rasche Registrierung und Weiterverteilung auf andere EU-Mitgliedstaaten. Ebenso müssen bürokratische Strukturen, die Menschen zur Untätigkeit zwingen und durch die ihnen grundlegende soziale Rechte verweigert werden, überwunden werden. Es muss darum gehen, Menschen eine konkrete Perspektive für gesellschaftliche Teilhabe zu geben.

Frage: In Deutschland klagen immer mehr Städte und Gemeinden, sie wären am Ende ihrer Aufnahmefähigkeit angelangt. Wenn noch mehr Geflüchtete kämen, würde das allenfalls die Stimmenzahl der AfD bei den nächsten Wahlen steigern. Was sagen Sie denen nach Ihren Erfahrungen auf dieser Reise?

Heße: Wer die Aufnahme von Flüchtlingen in erster Linie als Bedrohung darstellt, spielt den Populisten in die Karten. Wir brauchen lösungsorientierte Ansätze. Dazu gehört auch ein gesellschaftlicher Bewusstseinswandel, der die Schutzbedürftigkeit der betroffenen Menschen ins Zentrum rückt.

Einzelfallprüfung notwendig

Frage: Viele in Deutschland sagen, wir bräuchten zwar Zuwanderung und viel mehr qualifizierte Fachkräfte, aber die kämen ja nicht, sondern vor allem Zuwanderer ins Sozialsystem, die nicht arbeiteten und vor allem Probleme machten. Was sagen Sie zu diesen Sorgen?

Heße: Maßnahmen zur Erleichterung von Arbeitsmigration sind sicherlich sinnvoll. Wir sollten diese Debatte aber nicht allzu sehr mit Fragen von Flucht und Asyl vermischen. Beim Flüchtlingsschutz handelt es sich um eine rechtliche und ethische Verpflichtung - unabhängig davon, ob ein Mensch arbeiten kann oder nicht.

Frage: Unionschef Merz fordert, nur wirklich Verfolgten Asyl zu gewähren und mehr Länder zu sicheren Herkunftsstaaten zu erklären, um Menschen direkt dorthin zurückschicken zu können. Die Anerkennungsquoten lägen ohnehin nur im Promillebereich. Kann das hilfreich sein?

Heße: Auf meiner Reise bin ich Menschen begegnet, die ihre Heimat aus ganz unterschiedlichen Gründen verlassen mussten. Wer mit geflüchteten Menschen spricht, der merkt schnell: Oft liegen sehr individuelle Schutzbedarfe vor, die eine sorgfältige Prüfung des Einzelfalls unbedingt notwendig machen.

Frage: Wie sollten sich die Kirchen positionieren in den heftiger werdenden Debatten um die Flüchtlingspolitik?

Heße: So wie sie es 2021 in ihrem ökumenischen Migrationswort getan haben: Den Kirchen ist daran gelegen, Fragen von Migration und Flucht menschenwürdig zu gestalten. Es ist unser grundlegender Auftrag als Kirche, schutzbedürftigen Menschen zu helfen.

Frage: In diesen Tagen wird an das erste Kirchenasyl vor 40 Jahren erinnert. In welchen Fällen ist das ein hilfreiches Instrument?

Heße: In aller Regel machen sich Kirchengemeinden oder Ordensgemeinschaften die Entscheidung, einen schutzsuchenden Menschen ins Kirchenasyl aufzunehmen, nicht leicht. Denn das Kirchenasyl ist eine Ultima Ratio, um Gefahren für Leib und Leben abzuwenden. Ziel ist es, im Austausch mit den Behörden eine gute Lösung für die betroffenen Schutzsuchenden zu finden. Auf diese Weise kann das Kirchenasyl unserem Rechtsstaat dienen.

KNA

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