Koloniale Strukturen leben in der digitalen Welt fort
Von der Ostindien-Kompanie zu SpaceX

Koloniale Strukturen leben in der digitalen Welt fort

Bonn  ‐ Die meisten Kolonien haben spätestens im 20. Jahrhundert ihre Unabhängigkeit erlangt. Trotzdem gibt es bis heute ein Gefälle zwischen Nord und Süd. Das zeigt sich einem neuen Sachbuch zufolge vor allem im Digitalbereich.

Erstellt: 08.03.2025
Aktualisiert: 27.02.2025
Lesedauer: 
Von Jana Ballweber (KNA)

Seit vielen Jahrzehnten verbinden Politiker, Unternehmen und Bürger die Digitalisierung mit dem Versprechen von Freiheit und Wohlstand. Die Schattenseiten rücken oft in den Hintergrund, wenn neue Technologien Beeindruckendes leisten. Dabei zeigen Macht- und Ausbeutungsverhältnissen hinter der Digitalisierung überraschende historische Kontinuitäten, findet der Technik-Journalist Ingo Dachwitz.

Er arbeitet für das Online-Medium netzpolitik.org und hat gemeinsam mit dem Globalisierungsexperten Sven Hilbig von Brot für die Welt ein Buch darüber geschrieben: „Digitaler Kolonialismus. Wie Tech-Konzerne und Großmächte die Welt unter sich aufteilen“. Darin zeigen die Autoren, wie die astronomischen Gewinne großer Tech-Unternehmen durch die Ausbeutung von Menschen und Natur im Globalen Süden zustande kommen – eine neue Variante kolonialer Abhängigkeiten.

Denn bis bei den Menschen ein Smartphone in der Tasche steckt, bis ein soziales Netzwerk sich ohne Hass und Hetze präsentieren kann, bis eine KI Menschen Arbeit abnimmt, sind im Globalen Süden viel Arbeitskraft und Ressourcen in die Digitalisierung geflossen – während die Gewinne woanders anfallen. Ein Mechanismus, der funktioniert, seit sich die europäischen Großmächte zum ersten Mal aufmachten, um ferne Welten gewinnbringend auszubeuten. Rohstoffe – seien es Baumwolle, Erdöl oder Silber – wurden aus den Kolonien günstig in die Mutterländer verschifft, wo sie weiterverarbeitet wurden. Die teuren Endprodukte gingen dann wieder zurück in die Kolonien.

Ein Verlustgeschäft für den Globalen Süden, das auch nach der politischen Unabhängigkeit der meisten Kolonien im 20. Jahrhundert fortbesteht. Vor allem in der Digitalwirtschaft, so die These, der sich Dachwitz und Hilbig in ihrem Buch gewidmet haben. Dabei blicken sie neben dem klassischen Rohstoffgeschäft auch auf andere Bereiche.

Zum Beispiel auf das Thema Arbeit. Während Digitalkonzerne gerne den Eindruck erwecken, dass ihre KI-Modelle Arbeit wie von Zauberhand ganz alleine erledigen könnten, stecken dahinter zahllose Clickworker. „Die Arbeitskraft von outgesourcten Beschäftigten, die überwiegend im Globalen Süden Contentmoderation betreiben, sind essenzieller Bestandteil für das Funktionieren sozialer Medien“, erklärt Dachwitz im Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).

Denn damit Nutzer sich sicher auf Online-Plattformen bewegen können, muss jemand Darstellungen von Gewalt, Kindesmissbrauch, Sex und Tod herausfiltern. Eine Arbeit, für die die Mitarbeiter oft keinerlei psychologische Unterstützung und sehr wenig Geld erhalten.

Koloniale Infrastruktur

Die Parallelen betreffen auch die Infrastruktur, betont Hilbig im Interview: „Genauso, wie es früher Konzerne aus dem Globalen Norden waren, die Erdöl-Pipelines verlegt haben, gehört die digitale Infrastruktur heute Unternehmen aus den USA oder China.“ Und dabei gehe es eher selten um die Interessen der lokalen Bevölkerung: „Die Bahnlinien auf dem afrikanischen Kontinent, die in der Kolonialzeit entstanden sind, verlaufen bis heute so, dass man Rohstoffe vom Landesinneren zu den Häfen transportieren kann, anstatt die Länder untereinander zu verbinden.“

Wenn die EU nun Nordafrika und Europa mit einem Unterseekabel verbinde, sei der Gedanke ganz ähnlich, ergänzt Dachwitz: „Hier sollen Daten aus Afrika nach Europa fließen, um hier in den Rechenzentren verarbeitet zu werden.“ Auch die unheimliche Macht mancher Digitalkonzerne wie Elon Musks SpaceX, das einen Großteil des satellitengestützten Internets kontrolliert, hat seine Vorbilder in der Kolonialzeit, bei Handelsgesellschaften wie der britischen Ostindien-Kompanie.

Zug fährt durch Menschenmenge
Bild: © Hartmut Schwarzbach/Missio Aachen

Die Bahnlinie nach Mombasa führt mitten durch Kibera. Zweimal täglich hält dort ein Pendlerzug.

Was also anfangen mit diesen Informationen? Die Autoren haben mehrere Antworten parat: „Wichtig ist zunächst einmal, sich selbst ein Bewusstsein für die Ausbeutungsprozesse zu schaffen. Wenn ich weiß, unter welchen Bedingungen die Rohstoffe für mein Smartphone gefördert werden, brauche ich vielleicht nicht jedes Jahr ein neues“, so der Journalist.

Die Perspektiven von Fachleuten aus dem Globalen Süden, die im Buch einen großen Raum einnehmen, zeigen aber auch: Ganz dekolonisieren lässt sich die Digitalbranche wohl nicht, aber sehr wohl gerechter gestalten.

„Es sind dicke Bretter, die zu bohren sind“, sagt Dachwitz. „Wir sprechen hier von Machtstrukturen, die über Jahrhunderte gewachsen sind.“ Gerade Europa könne aber auch wirtschaftlich von einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe profitieren, ergänzt Hilbig: „Es wäre vernünftig gewesen, wenn Europa schon vor langer Zeit eingestanden hätte, im Datenbereich von China und den USA abgehängt worden zu sein.“ Dann hätte man auf Augenhöhe auf andere Partner zugehen und mit ihnen zusammenarbeiten können - zum Wohle aller Beteiligten.

Das Buch

Ingo Dachwitz, Sven Hilbig: „Digitaler Kolonialismus. Wie Tech-Konzerne und Großmächte die Welt unter sich aufteilen“, C.H. Beck, München 2025, 351 Seiten, 28 Euro.

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