Indigene Spiritualität und christlicher Kontext – eine Schieflage?
Wo kommen wir her, wo gehen wir hin? In den 90er-Jahren hofften viele, in der Spiritualität der nordamerikanischen Lakota Antworten auf diese Fragen zu finden. Doch sie stießen auf Herausforderungen, berichtet die Künstlerin und Philosophin Ingeborg Hainz.
Aktualisiert: 14.01.2025
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Die Serie
Teil 9 der Missionskeulen-Serie. Die vergangenen Beiträge beleuchten die komplexe Aufarbeitung der Missionsgeschichte im kolonialen Kontext, das Forschungsprojekt Missiosgeschichtliche Sammlungen, die Herkunft der Keule, die Arbeit deutscher Jesuiten bei den Lakota-Sioux, die Erinnerung an den Jesuiten Eugen Büchel, zwei sehr unterschiedliche Lakota-Kunstsammlungen, die Suche der Red Cloud Indian School nach der Wahrheit sowie die Erfahrungen eines Jesuiten bei diesem Prozess.
Von Ingeborg Maria Hainz
I. Transzendenz im Alltag
Selbstverwirklichung und Heilserwartung in fernen Landen
In den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts brach ein neuer Boom aus: die Suche nach Spiritualität in fernen Landen. Viele Europäer wandten sich ab von den etablierten Religionsgemeinschaften wie katholischer oder evangelischer Kirche. Für die Fragen „wo kommen wir her, wo gehen wir hin“ schien es keine Antwort zu geben innerhalb der christlichen Tradition. In der Folge suchten viele Menschen nach neuen Formen von gelebter, authentischer Spiritualität, in der Hoffnung auf Selbstverwirklichung, eine bessere Welt des zwischenmenschlichen Zusammenlebens und der metaphysischen Frage nach einem transzendenten Ursprung und Verbundenheit.
Ohne genau zu definieren, was das eigentlich sein sollte – Spiritualität – löste dieser Begriff den der Religion ab. Gesucht wurden Vorbilder für ein Lebensmodell, welches in der Lage sein sollte, den Alltag mit dem Transzendenten zu verbinden. Erwartet wurde, in der Fremde das ganz Andere zu erfahren und einen Blick über den Rand des bekannten Universums zu tun. Zielführend waren nicht mehr die Botschaften der Heiligen Schrift, sondern Lebensbeschreibungen oder zeremonielle Handlungsanleitungen fremder Kulturen. Neue metaphysische Denkmodelle mischten sich mit einer oft exotischen Lebensführung.
Ein Teil der Suchenden wandte sich nach Nord- oder Mittelamerika. Besonders bekannt wurde ein Volk der nordamerikanischen Indigenen, Lakota genannt, früher bekannt als „Sioux“.[1]
Gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts trugen Biografien und Filme aus der Lebenswelt der Indigenen wesentlich zu deren Popularisierung bei. Die Bücher des Lakota Nicolas Black Elk hatten Kultstatus erreicht, darunter das Buch „Die Heilige Pfeife“[2].
Transzendente Erfahrungen und Alltag
Die Heilige Pfeife ist das zentrale Gebetsinstrument der Lakota, „Cannupa“, Zwei-Holz genannt, welches öffentlich und privat zum Beten benutzt wird. Im Akt des Zusammensteckens von Pfeifenkopf und Stiel entsteht eine Verbindung, welche die Einheit von Himmel und Erde nicht nur symbolisiert, sondern aktual manifestiert zwischen dem Numinosen und dem Betenden. Der Kopf der Cannupa wird mit Kräutern oder Tabak gefüllt, welche die Gebetsanliegen repräsentieren, und anschließend geraucht. Der Rauch trägt die Gebete zum Schöpfer. Nach dieser sakralen Handlung wird sie auseinandergenommen und damit profanisiert.
In der Sprache der Lakota gibt es kein Wort für „Religion“. Zentral ist die monistische Vorstellung eines zentralen Verursachers der Welt, der nicht direkt erkennbar ist, indirekt sich jedoch in dem Geschaffenen und den Geschöpfen zeigt. Die Grenze vom Diesseits ins Jenseits ist fließend und durchlässig. Es ist nicht die Natur an sich, die verehrt wird, sondern die Natur ist der Ausdruck dieses einen höchsten Wesens, ‚Wakan Tanka‘, als Begriff annähernd adäquat zu übersetzen mit „Große Energie“, wobei diese Art von unpersönlicher Energie alles pneumatisch durchdringen kann. Es gibt nichts Übernatürliches, da die Schöpfung als vom Schöpfer Geschaffenes bereits alles beinhaltet.
Hilfe und Heilung durch die Totengeister
Auch der Übergang zwischen Leben und Tod ist fließend und ermöglicht es einigen Totengeistern (Verstorbenen) aufgrund einer bestimmten Lebensweise auch über den Tod hinaus Menschen zu besuchen und ihnen zu helfen. Diese Kontaktnahme geschieht meistens innerhalb einer Zeremonie, in der ein sogenannter „Übersetzer“, fälschlicherweise in der kontemporären Literatur benannt als ‚Schamane‘ oder ‚Medizinmann‘, heutzutage zwischen den Sterblichen und den Geistern vermittelt.
In der pragmatischen und auf verwandtschaftlichen Beziehungen basierenden Welt der indigenen Völker wird die Existenz der Geister akzeptiert und für den Alltag genutzt, ohne kognitiv deren Vorhandensein verstehen zu wollen. Es gibt Fragen, die der Mensch nicht beantworten kann und nach Ansicht der Lakota auch nicht beantworten muß. Spirituelle Erfahrungen und Erlebnisse werden nicht rationalisiert und es ist nicht nötig, eine Distanz zum Erlebten zu gewinnen. Niemand wird sich jedoch damit brüsten, eine besondere Erfahrung gemacht zu haben. Sie gehört zum einen zum Alltag und zum anderen zur schützenswerten Zone jedes Individuums. Wozu also fragen, anstatt die Hilfe des Schöpfers dankbar anzunehmen?
II. Indigene Tradition in Veränderung
Manche Europäer oder Amerikaner fühlen sich angezogen von indigener Spiritualität und Tradition. Es werden Reisen unternommen, um explizit an traditionellen Riten teilzunehmen. Besonders auf das Volk der nordamerikanischen Lakota richtet sich deren Aufmerksamkeit. Die Besucher des Indianerlandes werden stets auf die lange Tradition hingewiesen, welche die rituellen Gebetsformen stützen. Da die indigene Überlieferung oral geprägt und auf interaktive Vermittlung angewiesen ist, stellt sich die Frage: Wie alt ist diese Tradition wirklich?
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Bildhinweis: Die Person links lässt sich nicht eindeutig zuordnen. Beide Personen halten ein Rauchinstrument in Händen. Unabhängig davon, in welchem Maße sich P. Büchel tatsächlich auf die Praxis des zeremoniellen Rauchens zu Ehren des Schöpfers eingelassen haben mag, so ist doch die Akzeptanz einer Bifurkation unterschiedlicher Glaubenspraktiken angesichts eines Schöpferprinzips ersichtlich. (Bild via flickr.com)
Durch die Konfrontation mit den europäischen Kolonisatoren hat sich das Leben der Lakota grundlegend gewandelt. Sowohl das Gemeinschaftsleben als auch die zeremoniellen Gebete und Heilungsrituale haben sich im Verlauf der Begegnungen mit christlichen Ideen stark verändert oder neu gebildet. Die Zwangsakkulturation der indigenen Völker seitens der US-Regierung führte dazu, daß jede nichtchristlich konnotierte Zeremonie unter Strafandrohung verboten war und im Geheimen stattfinden mußte. Die Muttersprache zu sprechen war in Schulen und Internaten unter Strafe gestellt – mit verheerenden Auswirkungen. Eine ungebrochene Überlieferung war nur erschwert möglich. Erst im Jahre 1978 verabschiedete der Kongreß den „Act of Religious Freedom“, der die Ausübung von indigenen „Religionen“ erlaubt.
Auf der Suche nach ihren traditionellen Wurzeln fanden einige Indigene neben einer im Geheimen lebendigen zeremoniellen Praxis auch Schriftzeugnisse aus der Anfangszeit der Reservationen. Diese Quellen dienten nun dazu, die „alten Traditionen“ zu beleben und kollektiv zugänglich zu machen. Wie rein und unverfälscht sind diese Quellen?
Tradition im Beispiel Nicholas Black Elk
Als Beispiel seien genannt die Bücher „The Sacred Pipe“[3] und „Black Elk Speaks“[4] (Hrsg. J. G. Neihardt). Beide Bücher basieren auf Interviews mit dem Lakota Nicolas Black Elk, Mitte des 19. Jahrhunderts geboren und bereit, sich als Zeitzeuge über Geschichte und Spiritualität der Lakota zu äußern. Ohne hier detailliert darauf eingehen zu können, steht fest, daß die Herausgeber durch ihre christlich geprägte Sozialisation die Botschaft Black Elks beeinflußt haben – und damit auch die Rezipienten.
Interessant ist hierbei, dass Black Elk in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts lange Jahre Katechet in einer katholischen Gemeinde der Pine-Ridge-Reservation war und eng mit dem Leiter der Missionsstation, Pater Buechel SJ, zusammengearbeitet hat. Mit seiner Mithilfe erlernte der Jesuit die Sprache der Lakota und sammelte deren Geschichten. Im Gegenzug bekam Black Elk Einblicke in die Gedankenwelt des Christentums. Konsequenzen in Bezug auf eine Deutung der Welt sind aus diesem Dialog heraus auch für Black Elk denkbar und möglich. Aufgrund der Adaption der Lehren von Black Elk bedeutet das jedoch, dass ein Teil dessen, was als Tradition bewertet wird, nicht statisch ist, sondern innerhalb weniger Generationen einen kreativen Wandlungsprozeß durchläuft
Veränderungen
Bereits hier zeigt sich, daß der interkulturelle Austausch in der Lakota-Tradition Spuren hinterlassen hat. Ohne die Formen und Regeln der spirituellen oder religiösen Wirklichkeit und ihrer Deutungen als Ganzes hier darstellen zu können, sollen die folgenden Beispiele den Einfluß des Christentums veranschaulichen.
Die traditionellen indigenen Heiler vermitteln Hilfsbedürftigen in einer Zeremonie neben den Botschaften der Geister und einer zu verabreichenden individuellen Medizin die Möglichkeit, die Verbindung zu einer kosmologisch metaphysischen Ordnung wiederherzustellen aufgrund der Verwandtheit mit den Lebensformen der diese umgebenden Natur.
Krankheiten entstehen aus einem Konflikt, der das Individuum von dem kosmologischen Kontext entfremdet. Ziel und Struktur einer auf die Wiederherstellung des kosmologischen Zusammenhangs in einer Zeremonie war (und ist) auf Dialog ausgerichtet und fand oft innerhalb der Familien statt. Unter dem Einfluss des Christentums entstanden daraus halböffentliche komplexe Kultformen mit einer ausgeprägten, unveränderlichen Choreographie. Ein einfaches Treffen bekommt den Charakter einer liturgischen Feier und „Übersetzern“ wird ein priesterähnlicher Status zugesprochen. Ein „Stellvertreter“ (Medizinmann) tritt an Stelle des Individuums ins Zwiegespräch mit einem transzendenten Wesen zu dessen Heil – analog zu dem christlichen Erlösungsverständnis der Position Jesu.
Durch den personalen Gott des Christentums veränderte sich auch der Sprachgebrauch: Aus „Wakan Tanka“, als unpersönliche Zentralursache gedacht, wird in der Anrufung „Tunkašila“, Großvater, ein Vermittler zwischen den Welten des Diesseits und des Jenseits.
Unbesehen dessen, dass meine Interpretation aufgrund eventuell mangelnden Verständnisses des kosmologischen Gesamtbildes und Sprachbarrieren im Lakota-Kontext nicht vollständig ist, so ergibt sich doch eine Einschätzung. Angesichts obiger Erörterungen ergibt sich eine erkenntnistheoretische „Schieflage“: Eine christlich geprägte Erlösungsvorstellung mit Jesus Christus als Inkarnation Gottes lässt sich nicht vereinbaren mit einer individuellen Erlösungsvorstellung aufgrund eines Neu-Eingebettetseins in indigen verstandene kosmologische Zusammenhänge.
Somit bleibt eine Ambivalenz zwischen Bekanntem und Fremden für den anfangs genannten euro-amerikanisch spirituellen Sucher mit christlichen Wurzeln im Dialog der Traditionen erhalten und eine Herausforderung für die Integration des Erlebten.
Über die Autorin
Ingeborg Maria Hainz, geb. 1954, studierte Malerei an der Hochschule für Bildende Künste, Frankfurt, und Philosophie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt, derzeit im postgradualen Studium ebd.. Langjährige Aufenthalte inmitten des Volks der Lakota führten zu einem differenzierten Blick auf Fragen und möglicher Adaptionen indigener Spiritualität im Kontext eines christlich geprägten Weltbildes.
Fußnoten
[1] Anm.: Es handelt sich dabei um eine abwertende Bezeichnung benachbarter Stämme, welche das Volk der Lakota als „Schlangen“ (Ojibwa-Französisches Mischwort) abqualifiziert, eine andere Interpretation (Ottawa) lautet, dass es sich um Menschen handelt, die „nicht die gleiche Sprache sprechen“. Der Name ´Lakota` in ihrem Sprachgebrauch bedeutet ´Menschen`. Was nicht zu den `Menschen` dazugehört, ist potentiell feindlich – doch das nur am Rande.
[2] Schwarzer Hirsch (19782): „DIE HEILIGE PFEIFE. Das indianische Weisheitsbuch der sieben geheimen Riten“ (engl. THE SACRED PIPE). Aufgeschrieben von Joseph Epes Brown. Walter-Verlag. Olten.
[3] Vgl. Fn. 2.
[4] Schwarzer Hirsch (1962): „Ich rufe mein Volk. Leben. Traum und Untergang der Ogalalla-Sioux“ (engl. „Black Elk speaks“.) Aufgeschrieben von John Neihardt. Lizenzausgabe Verlag dtv-wissen Bd. 56. Olten.
Die Missionskeule. Eine Serie.
- Die Missionskeule: Eine internationale Spurensuche
- „Wie kommt die Indianer-Keule zu den Jesuiten?“ und andere Fragen der Projektstelle Missionsgeschichtliche Sammlungen
- Der Weg der Sioux-Steinhammerkeule: Wo sie angefertigt wurde – und wozu
- Deutsche Jesuiten bei den Lakota-Sioux – Eine vielschichtige Beziehung
- Respekt für Respekt: Eugen Büchel in Pine Ridge
- Sammeln und Ausstellen für die Lakota
- Die Suche nach der Wahrheit an der Red Cloud Indian School
- People Are More Important Than Ideas: Catholicism, Colonialism, and Historical Reckoning
- Indigene Spiritualität und christlicher Kontext – eine Schieflage?
- tbd
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Diese Serie entstand in Zusammenarbeit mit dem Institut für Weltkirche und Mission der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen.
Inhaltliche Planung und Mitarbeit: Dr. Markus Scholz, IWM | Redaktion: Damian Raiser, weltkirche.de
Die Beiträge dieser Serie spiegeln ausschließlich die Meinung der Autorinnen und Autoren wieder.