Die Suche nach der Wahrheit an der Red Cloud Indian School
Pine Ridge ‐ Generationen Indigener in den USA wurden zur „Umerziehung“ in oftmals kirchliche Internatsschulen geschickt. Viele erlebten dort Gewalt, Missbrauch und Diskriminierung. In der Red Cloud Indian School in South Dakota setzt man sich heute aktiv für die Wahrheitssuche ein – und sucht nach Heilung.
Aktualisiert: 11.11.2024
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Die Serie
Teil 7 der Missionskeulen-Serie. Die vergangenen Beiträge beleuchten die komplexe Aufarbeitung der Missionsgeschichte im kolonialen Kontext, das Forschungsprojekt Missiosgeschichtliche Sammlungen, die Herkunft der Keule, die Arbeit deutscher Jesuiten bei den Lakota-Sioux, die Erinnerung an den Jesuiten Eugen Büchel sowie zwei sehr unterschiedliche Lakota-Kunstsammlungen.
Von Claudia Roch
Die Jesuiten missionierten seit den 1840er Jahren im Gebiet der Lakota. Der erste bekannte Missionar war Pater Peter DeSmet. Er galt unter den Indianern als ein Mann, „dem man vertrauen konnte“. 1877 baten die Lakota-Häuptlinge Spotted Tail und Red Cloud Präsident Rutherford B. Hayes darum, dass katholische Priester in „schwarzen Roben“ die Ausbildung ihrer Kinder übernehmen. Sie hofften, dass die nächste Generation der Lakota dadurch besser gerüstet sein würde, in der Welt des „weißen Mannes“ zu überleben. Die US-Regierung gab dem Antrag der Häuptlinge statt, obwohl ihre Reservate bereits anderen Konfessionen zugewiesen worden waren. 1888 gründeten Jesuiten und Franziskanerinnen die St. Francis Mission School auf der Rosebud Reservation und die Holy Rosary Mission School auf der Pine Ridge Reservation.
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Die Schulen waren Teil der amerikanischen Boarding-School-Politik. Seit den 1870er Jahren wurden etwa 100.000 indianische Kinder von ihren Familien getrennt und auf Internatsschulen – sogenannte Indian Boarding Schools – geschickt, in denen sie ihre Muttersprache nicht gebrauchen und ihre Traditionen nicht ausüben durften.
Die erste Indian Boarding School wurde 1879 von dem ehemaligen Armeeoffizier Richard Henry Pratt in Carlisle, Pennsylvania, gegründet. Er schuf die Carlisle Indian Industrial School nach dem Vorbild einer Gefängnisschule, die er für eine Gruppe von 72 indianischen Kriegsgefangenen im Gefängnis Fort Marion in Florida entwickelt hatte. Gemäß seinem Motto „Kill the Indian, Save the Man“ sollten die Indianer durch einen Prozess erzwungener Akkulturation auf weißes Niveau „erhoben“ werden.
Innerhalb von drei Jahrzehnten nach Carlisles Eröffnung entstanden fast 500 Schulen im ganzen Land. Unter der Kontrolle des Bureau of Indian Affairs standen 25 Boarding Schools außerhalb der Reservationen, während die Kirchen 460 Boarding Schools und Reservationsschulen mit Regierungsgeldern betrieben.
Ein anhaltendes Trauma
Abgesehen vom Sommer und den Ferien lebten die Schüler für 10 Monate des Jahres entfernt von ihren Familien an der Schule. Die Hälfte des Tages war dem Unterricht gewidmet, der ausschließlich in Englisch abgehalten wurde, und die andere Hälfte Aufgaben in der Mission. Die Mädchen arbeiteten häufig in der Küche und der Wäscherei, die Jungen verbrachten ihre Zeit in den Holz- und Metallwerkstätten oder bewirtschafteten das Land.
Während einige ehemalige Schüler positive Erinnerungen an ihre Schulzeit haben, war sie für viele durch traumatische Erfahrungen geprägt. Basil Brave Heart, der in den 40er Jahren die Holy Rosary Mission School besuchte, erinnert sich noch, wie es sich anfühlte, als sein Haar, welches in der Lakota-Tradition als heilig erachtet wird, an einem der ersten Tage dort abgeschnitten wurde: „Es fiel auf den Boden und sie liefen darauf herum. Das war für mich eine tiefe spirituelle Verletzung und Respektlosigkeit.“
Die Lehrer schlugen die Schüler häufig. Der Mund der Kinder wurde mit Seife ausgewaschen, wenn sie sich in ihrer Muttersprache unterhielten. Brave Heart erinnert sich an eine besonders grausame Strafe: Eine Nonne zwang ihn, auf ein Gummiband zu beißen, es zu dehnen und gegen seine Lippen schnipsen zu lassen, weil er ein Lakota-Wort gesagt hatte. Zahlreiche Schüler wurden auch sexuell missbraucht.
Das Trauma wirkt in den indianischen Gemeinschaften bis heute fort. Cecilia Fire Thunder, die 2004 als erste Frau Präsidentin des Oglala Sioux Tribe wurde, glaubt, dass ihre Erfahrungen an der Schule gravierende Auswirkungen auf ihre Fähigkeit hatten, später im Leben ihre Kinder zu erziehen: „Ich fühlte mich als schlechte Mutter. Ich schrie meine Kinder an und bestrafte sie. Das haben sie uns gezeigt.“
Auf der Suche nach Wahrheit und Heilung
1974 wurde die St. Francis Indian School an den Stamm übergeben und ist nun unabhängig von der Mission. Die Holy Rosary Mission School wird noch immer von Jesuiten betrieben, über die Jahre hat sich die Schule jedoch verändert. 1969 wurde sie in Red Cloud Indian School (Maȟpíya Lúta Owáyawa) umbenannt, als Teil einer „Re-Identifikation“, die eine Partnerschaft zwischen der Schule und dem Stamm der Oglala-Lakota symbolisieren sollte. Bis 1980 hatte sie ihre Schlafsäle aufgelöst und wurde zu einer reinen Tagesschule. Zum Lehrplan gehört inzwischen auch Unterricht in der Sprache und Kultur der Lakota. Viele Mitarbeiter sind heute Stammesmitglieder, die im Reservat aufgewachsen sind. Dennoch ist bis in die jüngste Vergangenheit das für die Lakota entstandene Leid nie angesprochen worden.
„Es liegt in der Verantwortung derjenigen, die die Täter waren, und derjenigen, die das Vermächtnis der Täter geerbt haben, [diese Geschichte] zuzugeben und zu ändern, was sich ändern lässt.“
2020 hat die Schule einen „Wahrheits- und Heilungsprozess“ begonnen, der Vertreter der Schulverwaltung, die Jesuiten auf Pine Ridge, ehemalige Schüler und die breitere Lakota-Gemeinschaft einbezieht. Er basiert auf Konzepten der Lakota-Wissenschaftlerin Dr. Maria Yellow Horse Braveheart und umfasst vier Phasen: Konfrontation (oder Wahrheitsfindung), Verständnis, Heilung und Transformation. Im Moment konzentriert sich die Schule auf die Wahrheitsfindung. Ihr Ziel ist es, die Tatsachen über ihre Vergangenheit aufzudecken – durch das Sammeln von Erfahrungen ehemaliger Schüler, den Dialog mit der Gemeinschaft, Archivrecherchen und eine institutionelle Anerkennung des Schadens. Zum Wahrheits- und Heilungsprozess gehört auch die Suche nach unmarkierten Gräbern auf dem Gelände der Schule, die von den Jesuiten finanziert wird.
Wahrheit und Heilung sind nicht nur etwas für Boarding-School-Überlebende, sondern für die Gesellschaft als Ganzes, meint Maka Black Elk, Executive Director for Truth and Healing an der Red Cloud Indian School: „Es liegt in der Verantwortung derjenigen, die die Täter waren, und derjenigen, die das Vermächtnis der Täter geerbt haben, [diese Geschichte] zuzugeben und zu ändern, was sich ändern lässt.“
„Ich werde ihnen nie vergeben für das, was sie uns angetan haben“
Die Initiative an der Red Cloud Indian School kommt zu einer Zeit, in der die katholische Kirche mit der Aufarbeitung ihrer Rolle im Residential-School-System in Kanada befasst ist. Tausende von Betroffenen haben seit den 1990er Jahren Klage gegen die Kirchen und die Regierung eingereicht. Im Rahmen des Indian Residential Schools Settlement Agreement zahlte die katholische Kirche mehr als eine Million Dollar an ehemalige Schüler von Internatsschulen. Im Juli 2022 begab sich Papst Franziskus zu einer einwöchigen „Bußreise“ nach Kanada und sprach eine historische Entschuldigung für die Rolle der Kirche bei der Residential-School-Politik des Landes aus.
Im Gegensatz zu Kanada gibt es in den USA keinen formalen Rahmen für die Aufarbeitung ihrer Boarding-School-Vergangenheit. Dies könnte sich nun ändern. Die Abgeordnete Deb Haaland (inzwischen erste indigene Innenministerin der USA) und Senatorin Elizabeth Warren brachten 2020 erstmals einen Gesetzesentwurf zur Schaffung einer „Wahrheits- und Heilungskommission für die Indian-Boarding-School-Politik“ ein. Sollte das Gesetz verabschiedet werden, würde es Schulen wie die Red Cloud Indian School dabei unterstützen, tiefer in ihre Geschichte einzutauchen. Und es würde die Regierung für ihre Rolle bei der Einrichtung und dem Unterhalt dieser Internate zur Rechenschaft ziehen.
Im August 2022 besuchte das Oberhaupt der Jesuiten, Arturo Sosa, die Red Cloud Indian School und bat um Entschuldigung für die Beteiligung des Ordens an dem vergangenen Missbrauch. Die Bemühungen der katholischen Kirche um Versöhnung finden in der Lakota-Gemeinschaft allerdings nicht bei allen Zustimmung. Ein ehemaliger Schüler der St. Francis Mission School sagte: „Ich werde ihnen nie vergeben für das, was sie uns angetan haben. Auch in meinem Alter habe ich noch Alpträume.“
Über die Autorin
Dr. Claudia Roch, geboren 1973 in Karl-Marx-Stadt, studierte Ethnologie, Journalistik und Religionsgeschichte in Leipzig und Glasgow. Im Rahmen ihrer Promotion führte sie eine Feldforschung im Südwesten der USA durch. Sie war am Ethnologischen Museum Berlin tätig und arbeitet zurzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Übersee-Museum Bremen.
Hinweis zum Titelbild
Das Beitragsbild stammt aus der Sammlung Holy Rosary Mission - Red Cloud Indian School Records 6-1 G 11501 der Raynor Library der Marquette-University. Im Original ist es folgendermaßen beschriftet:
Middle-level classoom with boys and Jesuit teacher, Mr. Alois H. Sommer, S.J.
Inscriptions on black boards in image: Pertains to arithmetic and English verb conjugation.
Verso caption: Front: Right: Mr. Alois H. Sommer, S.J. 1. Clement Shab, Willard Janis, Melvin White Eyes, Albert Trimble, Robert Cuny, Duane Morgan. 2. Aloysius Hunter, Dalbert Pumpkin Seed, Lawrence Witt, Herman Winters, Paul Herman, Pat Pourier, Denis Compos. 3. Bill Plenty Wounds, Eugene Catchers, Abraham La Deaux, Emerson Spotted Bear, Willard Cuny, Delmer Morgan, Leo Vocu. Mr. Sommer’s class 1939.
Die Missionskeule. Eine Serie.
- Die Missionskeule: Eine internationale Spurensuche
- „Wie kommt die Indianer-Keule zu den Jesuiten?“ und andere Fragen der Projektstelle Missionsgeschichtliche Sammlungen
- Der Weg der Sioux-Steinhammerkeule: Wo sie angefertigt wurde – und wozu
- Deutsche Jesuiten bei den Lakota-Sioux – Eine vielschichtige Beziehung
- Respekt für Respekt: Eugen Büchel in Pine Ridge
- Sammeln und Ausstellen für die Lakota
- Die Suche nach der Wahrheit an der Red Cloud Indian School
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Diese Serie entstand in Zusammenarbeit mit dem Institut für Weltkirche und Mission der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen.
Inhaltliche Planung und Mitarbeit: Dr. Markus Scholz, IWM | Redaktion: Damian Raiser, weltkirche.de
Die Beiträge dieser Serie spiegeln ausschließlich die Meinung der Autorinnen und Autoren wieder.