Henrike Bittermann, Afghanistan-Referentin bei Caritas international (2024)
Caritas-Expertin zur Unterdrückung von Frauen in Afghanistan

„Taliban sind so stark – und Frauen bleibt keinerlei Freiheit“

Kabul/Freiburg  ‐ Vor drei Jahren eroberten die Taliban Afghanistan im Handstreich zurück. Vor allem für Frauen fürchteten Menschenrechtler danach schwere Einschränkungen. Eine Expertin sagt nun: Es wird sogar noch schlimmer.

Erstellt: 15.09.2024
Aktualisiert: 13.09.2024
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Von Volker Hasenauer (KNA)

Henrike Bittermann ist Afghanistan-Referentin bei Caritas international. Die katholische Hilfsorganisation ist seit Jahrzehnten mit humanitären, psychosozialen und medizinischen Projekten in Afghanistan aktiv. Drei Jahre nach der erneuten Taliban-Machtübernahme zeichnet sie ein drastisches Bild der Unterdrückung und des Schikanierens von Frauen. Hoffnung auf einen Wandel sieht sie derzeit nicht. Und das führe zu großer Verzweiflung und Angst.

Frage: Frau Bittermann, wie bedrückend ist es, in einem Regime, das Frauen systematisch unterdrückt und aller Freiheiten beraubt, weiterhin medizinische und humanitäre Hilfe zu organisieren?

Henrike Bittermann: Die immer drastischeren Einschränkungen machen traurig und wütend. Aber zugleich sind sie Anreiz, weiter nach den noch verbleibenden Chancen zu suchen, damit Frauen am Leben teilhaben können.

Frage: Vor wenigen Tagen haben die Taliban – drei Jahre nach ihrer Machtübernahme – ein „Tugendgesetz“ zur „Prävention gegen das Laster“ veröffentlicht. Es ist für Frauen ein Dokument des Schreckens. Welche Folgen hat das neue Gesetz?

Bittermann: Wir dachten schon vorher, schlimmer kann es bei den Einschränkungen für Frauen nicht werden – aber es wurde schlimmer. Frauen müssen sich jetzt am ganzen Körper verschleiern. Der bislang übliche Hijab, bei dem das Gesicht offen bleiben dürfte, ist jetzt verboten. Frauen sollen in der Öffentlichkeit nicht mehr laut sprechen - manche Tugendwächter könnten das als vollständiges Sprechverbot auslegen. Frauen dürfen Männer nicht mehr anschauen. Und Frauen dürfen nur noch mit ihrem „Mahram“ – einem eng verwandten männlichen Aufpasser oder ihrem Ehemann – das Haus verlassen.

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Frage: Was bleibt dann noch an Freiheiten?

Bittermann: Fast keine mehr. Der Alltag von Frauen findet zu 95 bis 99 Prozent nur noch im eigenen Haus statt. Über alle diese Vorschriften wacht die sogenannte Tugendpolizei. Diese Männer kontrollieren Frauen auf offener Straße und schikanieren sie. All das zielt darauf ab, Frauen Angst zu machen, damit sie nur noch zu Hause bleiben.

Frage: Wie kann eine Gesellschaft funktionieren, wenn die Hälfte der Menschen vom öffentlichen Leben ausgeschlossen ist? Mädchen nur bis zur sechsten Klasse in die Schule gehen dürfen und Universitäten für Frauen Tabu sind?

Bittermann: Die Taliban sind so stark, dass sie ihre Regeln durchsetzen. Im Moment denken sie nicht an die langfristigen Folgen: Aber was wird künftig sein, wenn keine Ärztinnen oder Lehrerinnen mehr ausgebildet werden? Für Stellen, die nach islamischem Recht Männer gar nicht ausüben dürfen.

„Viele jüngere Frauen, die vielleicht 30 oder 40 Jahre alt sind, kennen ein anderes Leben“

—  Zitat: Henrike Bittermann, Afghanistan-Referentin bei Caritas international

Frage: Welche Perspektive sehen Sie, dass Afghaninnen wieder mehr Freiheit gewinnen könnten?

Bittermann: So sehr ich mir für alle Frauen in Afghanistan etwas anderes wünschen würde – ich sehe im Moment keinen einzigen Hoffnungsschimmer. Jetzt schauen wir sorgenvoll darauf, wie scharf das neue Tugendgesetz umgesetzt werden wird.

Frage: Könnten Frauen aus dem Land fliehen?

Bittermann: Kaum, es gibt überall im Land sehr scharfe Kontrollen und Checkpoints. Wenn überhaupt, können sich Frauen nur mit ihrem Mahram bewegen. Ich habe am Flughafen erlebt, wie alleinreisende Frauen nicht ins Flugzeug steigen durften. Und selbst wenn sie das Land mit ihrer Familie verlassen könnten – welche Perspektive hätten sie denn? Welches Land würde sie aufnehmen? Nicht nur Deutschland verschärft seine Migrationsgesetze.

Frage: Im Iran kam es nach Übergriffen der Tugendpolizei zu Massenprotesten – wäre das in Afghanistan auch denkbar?

Bittermann: Momentan auf keinen Fall! Die Taliban sind zu stark. Und es gab hier noch nie eine breite gesellschaftliche Bewegung gegen das Regime. Zwar wünschen sich natürlich auch viele Männer mehr Freiheiten für ihre Ehefrauen und für ihre Töchter. Sie hoffen, dass sie eine weiterführende Schule oder Universität besuchen können. Aber dass sie dafür auf die Straße gehen, in Widerstand gegen das Taliban-Regime, das ist, auch aus Angst, jenseits aller denkbaren Möglichkeiten.

Mädchen sitzen in Afghanistan in einer Schule
Bild: © Behnen / Jesuitenmission

Bis vor der Taliban-Machtergreifung war der Schulbesuch auch für Mädchen vielerorts möglich (Archivbild).

Frage: Wie groß ist darüber die Verzweiflung von Frauen?

Bittermann: Extrem groß. Viele jüngere Frauen, die vielleicht 30 oder 40 Jahre alt sind, kennen ein anderes Leben. Sie haben studiert, hatten einen guten Job. Jetzt werden sie plötzlich wieder in die Unfreiheit gezwungen. Und niemand tritt für sie ein und sagt: „Das geht so nicht!“

Frage: Gibt es jetzt Berichte über mehr Suizide von Frauen?

Bittermann: Darüber wird geredet, auch wenn es keine belegbaren Zahlen gibt. Aber es ist offenkundig, dass die Verzweiflung wächst. Und gleichzeitig gibt es fast keine psychologischen Hilfen. Caritas international bietet solche psychosozialen Beratungen und Gespräche an – und wir erhalten enorm viele Anfragen. Aber es ist schwierig, das Projekt fortzuführen, weil die Taliban es für unnötig halten. Stattdessen sollten die Frauen lieber beten, so ihre Empfehlung.

Frage: Das Gesetz gegen Laster verbietet sogar das Fotografieren und Filmen von Menschen – was steht hinter diesem Verbot?

Bittermann: Vielleicht der Wunsch der Taliban, dass die Weltöffentlichkeit nicht mehr sehen soll, wie die Menschen hier leben müssen.

„Wir sind als Caritas international dem Neutralitätsgebot der humanitären Hilfe verpflichtet“

—  Zitat: Henrike Bittermann, Afghanistan-Referentin bei Caritas international

Frage: Wie können Menschen in Deutschland Afghaninnen unterstützen?

Bittermann: Sich informieren und sich selbst ein Bild der Lage machen. Afghanische Aktivistinnen im Exil halten immer wieder Vorträge und laden zu Gesprächen ein. Manchmal haben sie persönliche Möglichkeiten, wie sie Frauen helfen können.

Frage: Und die Politik?

Bittermann: Wir sind als Caritas international dem Neutralitätsgebot der humanitären Hilfe verpflichtet. Da können wir keine Forderungen stellen. Aber ich glaube, ohne Kontakte kann es keine Fortschritte geben. Wenn wir wollen, dass sich in einem Land etwas verändern soll, dann werden wir es mit Sicherheit nicht erreichen, indem wir uns von den Machthabern komplett abschotten.

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