Bergkarabach
Gefährdete Kulturgüter in Bergkarabach

Armeniens Katholikos beklagt „barbarische Akte“ Aserbaidschans

Jerewan  ‐ Das Armenische Kirchenoberhaupt Karekin II. über die Zerstörung der armenischen christlichen Kulturgüter in Bergkarabach und die Friedensverhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan.

Erstellt: 18.05.2024
Aktualisiert: 17.05.2024
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Der armenische Katholikos Karekin II. mahnt echte Friedensverhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan und einen Schutz der armenischen christlichen Kulturgüter in Bergkarabach an. Im Gespräch mit der Presseagentur Kathpress (Donnerstag) und weiteren Medien kritisierte das Oberhaupt der armenisch-apostolischen Kirche „barbarische Akte“ Aserbaidschans, das die Geschichte und Existenz des armenischen Volkes und Christentums in Bergkarabach komplett auslöschen wolle. Immer öfter würden Kirchen zerstört oder Friedhöfe dem Erdboden gleichgemacht.

Aktuell ist in Bergkarabach das Schicksal von mehr als 4.000 ungeschützten Kulturdenkmälern ungewiss, darunter etwa 300 Kirchen und Klöster, aber auch viele Friedhöfe. Im September 2023 hatte Aserbaidschan Bergkarabach mit überlegenen militärischen Mitteln angegriffen. Schon nach einem Tag war der Krieg entschieden. Dem Angriff vorausgegangen war eine rund neun Monate dauernde Totalblockade Bergkarabachs durch Aserbaidschan. Mehr als 100.000 Armenier mussten über Nacht ihre Heimat verlassen.

Ende 2023 hörte das Territorium auch offiziell auf zu existieren. Schon nach dem Karabach-Krieg 2020 waren zudem bis zu 30.000 Karabach-Armenier dauerhaft nach Armenien geflüchtet. Das kleine Land nahm insgesamt mehr als 130.000 Vertriebene auf und versucht, sie zu integrieren.

Karekin II. hat in den vergangenen Monaten wiederholt offiziell zu gesellschaftlichem und nationalem Zusammenhalt in Armenien aufgerufen. Nur so sei es möglich, den aserbaidschanischen Expansionsbestrebungen und Übergriffen auf armenischen Staatsgebiet zu widerstehen. Die Regierung habe nicht nur zu wenig getan, um Bergkarabach zu unterstützen, sondern verhandele nun auch schlecht; noch dazu ohne Garantien vonseiten des Westens oder Russlands, so der Patriarch.

Der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew spreche offen aus, dass er sich mit dem bisher Erreichten nicht zufriedengeben wolle, so Karekin II. im Kathpress-Gespräch am Sitz der Kirche in Edschmiadzin bei Jerewan. Er verwies auf aserbaidschanische Ansprüche auf Dörfer in Armenien und einen Korridor im Süden des Landes, der Aserbaidschan mit der Enklave Nachitschewan verbinden soll. Bei den Verhandlungen werde auch an keiner Stelle eingefordert, dass die Karabach-Armenier ein Recht auf eine sichere Rückkehr in ihre Heimat hätten, kritisiert der Katholikos. Auch das Schicksal der Soldaten und Politiker von Bergkarabach in den Händen Aserbaidschans sei völlig ungewiss.

Armenien erlebt derzeit heftige innenpolitische Turbulenzen. Immer mehr Menschen demonstrierten in den vergangenen Tagen gegen die Politik von Ministerpräsident Nikol Paschinjan. Einer der führenden Köpfe der Proteste gegen Paschinjan ist der armenisch-apostolische Erzbischof von Tavush, Bagrat Galstanyan. Er ist von den politischen Verhandlungen direkt betroffen.

Mitte April hatte die Regierung von Nikol Paschinjan beschlossen, vier Dörfer in der Grenzregion Tavush an Aserbaidschan zurückzugeben, die Armenien in den 90er Jahren besetzt hatte. Gleichzeitig einigten sich beide Länder darauf, den umstrittenen Grenzverlauf in der Region verbindlich festzulegen.

Auch die armenische Kirchenleitung hat bereits deutlich Stellung bezogen. „Wir halten die Aktivitäten in den Grenzgebieten von Tavush, die im Namen der Grenzfestlegung und -markierung durchgeführt werden, für sehr gefährlich“, hieß es vor einigen Tagen in einer Erklärung der Armenisch-Apostolischen Kirche.

Friedensgeste sorgt für Unfrieden

Gleichzeitig wurde bekannt, dass Armeniens Regierung vier Dörfer an Aserbaidschan zurückgeben und einen Schritt zum Frieden mit dem Erzfeind machen möchte. Bewohner der Region, Opposition und Kirche protestieren. Der Druck auf den Ministerpräsidenten wächst.

Zweifel an seiner Entscheidung hat Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan offenbar nicht: „Was wird passieren, wenn wir diesen Prozess aufhalten? Die Antwort ist einfach: Krieg“, sagte er laut der staatlichen Nachrichtenagentur Armenpress bei einer Pressekonferenz.

Mitte April hatte seine Regierung beschlossen, vier unbewohnte Dörfer an Aserbaidschan zurückzugeben, die Armenien in den 1990er Jahren besetzt hatte. Gleichzeitig einigten sich beide Länder darauf, den umstrittenen Grenzverlauf in der Region verbindlich festzulegen. Die ersten Grenzpfähle stehen bereits.

„Die Grenzpfähle sind die Grundpfeiler der Sicherheit“, sagte Regierungschef Paschinjan nun am Dienstag. Sein Kalkül ist klar: Um den schwelenden Konflikt mit dem Nachbarn zu beenden und weiteren militärischen Auseinandersetzungen vorzubeugen, müssen beide Länder ein Friedensabkommen schließen. Die Rückgabe der Dörfer ist aus seiner Sicht ein Schritt dazu, den Aserbaidschan lange gefordert hatte.

Auch Armeniens westliche Verbündete lobten damals die Entscheidung: Dies sei ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem dauerhaften und würdigen Friedensabkommen, twitterte US-Außenminister Anthony Blinken im April. Ähnlich äußerte sich das Auswärtige Amt; UNO-Generalsekretär Antonio Guterres begrüßte die Einigung. Der EU-Sonderbeauftragte für den Kaukasus sprach von „ermutigenden Nachrichten“.

Teile der armenischen Bevölkerung sehen das aber ganz anders. „Auch bei Leuten, die Paschinjan gewählt haben und ihn nach wie vor für alternativlos halten, schwingt Kritik mit“, sagt Marcel Röthig, Leiter des Kaukasus-Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung; nämlich: “Wie kann man diese Dörfer aufgeben, auch wenn sie Aserbaidschan rechtmäßig gehören, ohne etwas im Gegenzug zu bekommen?“ Denn auch Armenien wirft Aserbaidschan vor, Teile des Staatsgebietes besetzt zu haben.

KNA

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