Schwieriges erstes Jahr für Bergkarabach-Flüchtlinge in Armenien
Jerewan ‐ Über 100.000 Menschen flohen im September 2023 vor der aserbaidschanischen Armee aus Bergkarabach nach Armenien. Ein Jahr später kämpfen viele immer noch mit großen Herausforderungen. Viele vermissen die alte Heimat.
Aktualisiert: 20.09.2024
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Die bunten Keramiken an Azatoohi Simonians Stand verraten nichts von der traurigen Geschichte ihrer Schöpferinnen. Geflüchtete Frauen aus Bergkarabach haben sie hergestellt, nun warten die farbenfrohen Teller, Schalen und Tassen auf einem Kunstmarkt in der armenischen Hauptstadt Jerewan auf Käufer.
„Die Flüchtlinge müssen in ihrem Alltag noch immer viele Schwierigkeiten bewältigen“, sagt Simonian, die selbst zehn Jahre in Bergkarabach gelebt und für die nicht anerkannte Regierung gearbeitet hat. In ihrem Keramikstudio „CeramaZart“ arbeiten geflüchtete Frauen und haben so immerhin ein eigenes Einkommen.
Doch das kann über den Verlust der Heimat kaum hinwegtrösten: Im September 2023 griffen aserbaidschanische Truppen Bergkarabach an und begründeten die Aggression mit der Wiederherstellung der territorialen Integrität des Landes. Denn Bergkarabach, das bis dahin mehrheitlich von ethnischen Armeniern bewohnt war und enge geschichtliche und kulturelle Bindungen an das Nachbarland hat, gehört völkerrechtlich zu Aserbaidschan. Das hatten die Bewohner nicht akzeptiert und sich nach dem Zerfall der Sowjetunion für unabhängig erklärt – allerdings ohne internationale Anerkennung.
Nun flohen innerhalb weniger Tage fast alle armenischstämmigen Bewohner – rund 115.000 Menschen – ins Nachbarland. „Es war eine furchtbare Situation, völliges Chaos. Wir versuchten so viel zu helfen, wie wir nur konnten“, sagt Anushik Ghuzanyan von der armenischen Nichtregierungsorganisation Teryan Kulturzentrum. Wie die Regierung, internationale Organisationen und ein Heer freiwilliger Helfer stellte auch ihre Organisation innerhalb weniger Tage Nothilfe auf die Beine: Nahrungsmittel, Kleidung, Medikamente und Unterkünfte. Über 3.000 Menschen haben die Teryan-Mitarbeiterinnen seitdem nach eigenen Angaben geholfen.
Viele brauchen nicht nur Nothilfe. „Uns war bewusst, dass die Qualifikationen vieler Geflüchtete nicht den Bedürfnissen des armenischen Arbeitsmarktes entsprechen“, sagt Ghuzanyan. Das Zentrum bildet geflüchtete Frauen zu Kunsthandwerkerinnen aus, damit sie durch den Verkauf von Bildern, Keramik oder Schmuck ihren Lebensunterhalt verdienen können. Aber viele andere Geflüchtete kommen ohne Hilfe nicht über die Runden: Laut armenischer Regierung hatten im April rund 16.300 Menschen aus Bergkarabach einen Job. Weitere tausend waren selbstständig. Das ist ein deutlicher Anstieg zu Dezember 2023, als nur rund 5.350 Geflüchtete in Arbeit waren.
Alle Flüchtlinge erhalten monatliche Hilfen der armenischen Regierung. Im März beschloss sie zudem ein zusätzliches Förderprogramm, damit sie Häuser und Wohnungen bauen oder kaufen können. Dafür bekommen alle früheren Bergkarabach-Bewohner, auch Kinder, umgerechnet zwischen 4.640 und 11.600 Euro.
Doch finanzielle Unterstützung löst nicht alle Probleme. Viele Kinder und Erwachsene zeigten deutliche Symptome von Stress und Trauma, sagt Azatoohi Simonian von CeramaZart. Sie bietet auch Kunsttherapie für traumatisierte Geflüchtete an. „Bei den Kindern sehen wir, dass sie kaum mit anderen Kindern sprechen. Sie ziehen sich zurück. Es gibt Kinder, die das Pausenklingeln in der Schule für das Zeichen für Luftalarm halten und Panikattacken bekommen“, sagt Simonian. Aber auch viele Erwachsene würden häufig weinen oder sich von anderen Menschen isolieren.
Viele Geflüchtete hoffen noch immer, dass sie eines Tages in ihre Heimat zurückkehren können. Wie Lusik Geghamyan, die bereits 2020 floh und für das Teryan Kulturzentrum traditionelle armenische Gewänder stickt. Wenn sie von Bergkarabach spricht, nutzt sie die traditionelle armenische Bezeichnung Arzach: „Jeden Morgen, wenn ich meine Augen öffne, glaube ich in Arzach zu sein. Und wenn mir dann bewusst wird, dass ich nicht dort bin, träume ich, eines Tages wieder dort zu sein.“