
„Keine Gewinner, nur Verlierer – in einem Ozean von Leid“
Jerusalem ‐ Der Abt der deutschsprachigen Benediktiner auf Jerusalems Zionsberg beklagt nach mehr als 700 Tagen Krieg in Nahost Verrohung und Entmenschlichung zwischen Israelis und Palästinensern. Doch er berichtet auch Positives.
Aktualisiert: 11.09.2025
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Fast zwei Jahre Krieg im Heiligen Land. Was macht das mit den Menschen, mit der christlichen Minderheit? Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) sieht Nikodemus Schnabel (46), deutscher Benediktiner-Abt der Jerusalemer Dormitio-Abtei, neben Leid und Katastrophen auch Anlass zur Hoffnung.
Frage: Seit mehr als 700 Tagen herrscht im Heiligen Land Krieg. Wie hat das die Menschen verändert?
Abt Nikodemus Schnabel: Es ist eine Katastrophe, ich sehe keine Gewinner, sondern nur Verlierer. Uns umgibt ein Ozean von Leid. Die Grundfesten und Sehnsüchte der beiden Seiten – für jüdische Israelis nach Sicherheit, danach, niemals wieder schutzlos Opfer zu sein, und für Palästinenser der große Wunsch nach Freiheit, nach Eigenstaatlichkeit – sind erschüttert wie nie zuvor. Israel war noch nie so unsicher und verunsichert wie jetzt. Es konnte sein Versprechen am 7. Oktober 2023 nicht halten, der sichere Hafen für alle Juden zu sein.
Und die Palästinenser waren noch nie so unfrei und wenig selbstbestimmt wie jetzt, wenn man die unfassbaren Zerstörungen in Gaza ansieht, aber auch die Zunahme der Siedlergewalt in der Westbank. Dazu sehe ich allenthalben eine Verrohung, Diskurse haben sich ungut verschoben. Es gilt ein Schwarz-Weiß-Denken, ein Freund-Feind-Schema, gepaart mit einer Dehumanisierung des Menschen, der als Feind identifiziert wird, eine Dämonisierung. Wer sich um Dialog, Versöhnung, ums Brückenbauen bemüht, wird angegriffen, und zwar auf beiden Seiten.
Frage: Also eine einzige Katastrophe. Sehen Sie Auswege, Lichtblicke?
Schnabel: Als Mensch der Hoffnung versuche ich auch positive Aspekte herauszuarbeiten. Dazu gehört, dass einige Personen in dieser Krise über sich hinauswachsen und beeindruckende menschliche Größe zeigen, die mich tief beeindruckt. Zweitens sehe ich ein Zusammenrücken der Christen in der Ökumene und drittens einen neu belebten interreligiösen Dialog.
Frage: Bleiben wir bei den Kirchen: Wie hat der Krieg die Lage der Christen verändert?
Schnabel: Auch hier sehen wir die pure Katastrophe. Die Christen sind mit einem Bevölkerungsanteil von nicht einmal zwei Prozent die vulnerabelste Gruppe, und sie leiden besonders unter der Krise. Die Christen arbeiten hier nämlich vorrangig im Tourismus und Pilgersektor: im Hotelgewerbe und in der Gastronomie, als Krippenschnitzer, Busfahrer, Reiseführer. Dieser Sektor liegt vollkommen am Boden. Und es sind nicht nur die zwei Jahre Krieg, vorher gab es bereits die Corona-Krise.
In meinem Kloster etwa war 2019 das letzte gute Jahr, in dem wir Rücklagen bilden konnten. Es wächst gerade für die Christen eine Perspektivlosigkeit, gepaart mit der zunehmenden Siedlergewalt in der Westbank. Beides sind große Faktoren für die zunehmende Auswanderung vieler Christen. Zum anderen sehe ich aber, wie sehr die Ökumene in dieser Krise unglaublich gestärkt wurde. Die Christen rücken enger zusammen, sprechen mit einer Stimme, treten bewusst gemeinsam auf. Das ist wirklich eine Frucht der letzten Wochen und Monate.
„Die Christen rücken enger zusammen, sprechen mit einer Stimme, treten bewusst gemeinsam auf.“
Frage: Und wie hat sich der interreligiöse Dialog verändert?
Schnabel: Es scheint sich eine neue Form, eine neue Dimension des Dialogs anzudeuten. Bislang blieb es oft beim reinen Höflichkeitsaustausch, beim Händeschütteln mit Sprechblasen zu Festen. Aber in der aktuellen Krise mit ihren vielen Verwundungen ist es zu anstrengend, einen höflichen Smalltalk zu führen. Man kommt zu einer neuen Ehrlichkeit, zu einer schonungslosen Maskenlosigkeit im Dialog. Er ist zunächst schmerzhaft, voller Verletzungen, voller Missverständnissen. Man beginnt mit harten Vorwürfen, etwa: „Wo wart ihr am 7. Oktober? „Wo ist eure Stimme zu den Geschehnissen in Gaza?“ Aber man kommt ins Gespräch. Und ich sehe auch schon erste zarte Pflanzen, etwa die jüngste Erklärung des neuen aschkenasischen Oberrabbiners Kalman Ber, in der er deutlich die Gewalt gegen Christen ablehnt.
Frage: Wie sehen Sie die Rolle der Kirchen in der Krise, insbesondere der Kirchenführer? Haben sie eine Chance, können sie überhaupt eine Rolle spielen?
Schnabel: Absolut. Es ist wichtig, dass die Religionen sich von der Politik freischwimmen und nicht deren Thesen und Einlassungen nachplappern. Die Religionen müssen aus dem Glauben, aus den heiligen Texten, aus ihrer religiösen Tradition und theologischen Reflexion heraus versuchen, Antworten zu geben. Ich sehe ein großes Potenzial, wenn die Religionen auch als Korrektiv und als eigenständige Stimme auftreten. Ich erlebe, dass die Politiker uns dann auch zuhören, denn wir haben dann wirklich etwas zu sagen.
Frage: Was erwarten die Christen hier von der Weltkirche? Erleben sie genug Solidarität? Man hört Klagen über ausbleibende Pilgerbesuche.
Schnabel: Hier erlebe ich bei den Christen im Lande eine große Enttäuschung. Wenn man sieht, welche emotionale Bindung Juden weltweit zu Israel haben, und wie groß die emotionale Bindung von Muslimen zu Jerusalem ist, dann fühlen sich die hiesigen Christen von der Weltkirche manchmal im Stich gelassen. Dabei ist das Christentum ja die mit Abstand größte Religion auf der Erde. Selbst in der schlimmsten Krise sind immer jüdische und auch muslimische Pilger gekommen. Insbesondere die Westchristen – es gibt hier durchaus Besuche von Rumänen und Ukrainern – machen jetzt keine gute Figur. Gerade im katholischen Heiligen Jahr 2025 sollten sie den Mut haben, auch das Heilige Land zu besuchen und Solidarität mit den einheimischen Christen zu zeigen.
Frage: Israels Militär rückt in Gaza vor, ruft zur Evakuierung und Umsiedlung in den Süden auf. Ist dies das Ende der dortigen beiden christlichen Kirchen und ihrer Gemeinden?
Schnabel: Das wird die große spannende Frage. Ich bin sicher, dass die Christen bleiben und ausharren und nicht freiwillig gehen werden – und zwar aus Solidarität mit den Vulnerabelsten, mit den Alten und Kranken, die in den beiden Kirchencompounds leben. Allein die Mutter-Teresa-Schwestern betreuen 50 Schwerstbehinderte. In dieser Situation wollen die Priester und Ordensfrauen bei den ihnen anvertrauten Menschen bleiben. Die große Frage bleibt, ob Israel es wagt, die Kirchen mit Gewalt zwangszuräumen. Oder es wird so sein wie schon bei der ersten Evakuierung, dass Israel rundherum kämpft und bombt – und die Kirchen in Ruhe lässt.

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