Zerstörung so weit das Auge reicht – Eindrücke aus Gaza
Nahal Oz ‐ Mit der Armee einer Kriegspartei ins Kriegsgebiet zu fahren, ist für Journalisten ein Dilemma. Im Fall Gaza ist es die einzige Zugangsmöglichkeit.
Aktualisiert: 06.11.2025
Lesedauer:
Seit zwei Jahren kämpfen Journalisten um freien Zugang zum Gazastreifen. Erfolglos: Wer das Kriegsgebiet betreten will, kann dies nur in Begleitung und unter Kontrolle der israelischen Armee. „Embedded“, eingebettet, heißt diese Form von Journalismus, die zu Recht kritisch gesehen wird. Die Armee bestimmt Zeit, Ort, Gesprächspartner und somit das Narrativ. Die andere Seite, palästinensische Zivilisten etwa, kommt in dem geführten Setting einer der Kriegsparteien nicht zu Wort. Am Mittwoch hatte die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) die Möglichkeit, im Rahmen eines solchen „embeds“ knapp anderthalb Kilometer tief in den Gazastreifen zu fahren. Einen unabhängigen Besuch im Kriegsgebiet kann dies nicht ersetzen.
Auf der Ladefläche eines Transporters geht es los von einer Militärbasis am Kibbuz Nahal Oz. Hohe Betonwände schirmen die Sicht auf den Feldweg nach Gaza ab, „militärisches Sperrgebiet“, warnen gelbe Schilder. Kaum fünf Minuten dauert die Fahrt vom Stützpunkt draußen durch den Grenzzaun zum Armeeposten im israelisch kontrollierten Teil des Gazastreifens – der Pritschenwagen mit einem Dutzend internationaler Journalisten, verpflichtet zu Schutzwesten und Helmen, gerahmt von Militärjeeps. Die Soldaten auf dem Armeeposten drinnen tragen keinen Schutz.
Hinter dem Grenzzaun die Szenerie, die palästinensische Kollegen seit Monaten dokumentieren: Zerstörung, so weit das Auge reicht. Eine Orientierung in der Trümmerwüste scheint auch für jene unmöglich, die den Gazastreifen vor dem Krieg kannten. Einst stand hier Shujaiyye, ein Viertel am östlichen Rand von Gaza-Stadt, vor dem Krieg Heim für geschätzt 100.000 Menschen.
Die Terrororganisation Hamas habe Zerstörung gebracht, in Israel, in Gaza, in der Region, sagt Armeesprecher Nadav Schoschani. Sie habe den Krieg begonnen und auch die Kriegsführung gewählt, durch jahrelange Vorbereitung und ein extensives Tunnelnetz. „Wenn ein Tunnel fünf Kilometer lang ist und man sich um den Tunnel kümmern muss, was bedeutet, dass man diesen Tunnel sprengen muss, dann werden fünf Kilometer lange Häuserzeilen zerstört“, so Schoschani. Die Zerstörung ist für ihn „Teil der Tragödie, die Hamas über die Region gebracht hat“.
Bis heute finde die Armee unter Shujaiyye Tunnel des weitverzweigten Hamasnetzes. Auch neue Waffenlager gehörten zu den Armeefunden, „ein klarer Verstoß gegen das Abkommen“. Die Hamas verstoße seit dessen Inkrafttreten „fast täglich“ und an manchen Tagen mehrfach gegen das Abkommen. Wenn Phase eins des Abkommens erfüllt sei, also alle Geiseln zurückgegeben, die Hamas entwaffnet und eine internationale terrorfreie Sicherheitszone errichtet worden seien, sei Israel bereit für die nächsten Schritte: den Wiederaufbau des Gazastreifens und „eine weitere Bewegung in den Verteidigungslinien“, sagt Armeesprecher Schoschani.
Kein unabhängiger Zugang für Journalisten
Bis dahin bleiben die israelischen Soldaten in Sichtweite der sogenannten „gelben Linie“, der Rückzugslinie der Armee entsprechend des Waffenstillstandsabkommens, und wachen darüber, dass kein Palästinenser unbefugt den von Israel kontrollierten Bereich östlich der Linie betritt.
Wo genau die Linie inmitten des Trümmermeeres verläuft, ist mit dem Auge nicht erkennbar. An den Rändern des Gazastreifens habe man begonnen, gelbe Betonblöcke als Markierungen aufzustellen. Nicht so hier, bisher. Auch Schoschani und weitere zu Rat gezogene Soldaten des Postens haben Mühe, den genauen Verlauf zu zeigen. „Ungefähr in diesem Bereich“, sagt Schoschani mit einer Geste in Richtung Westen.
Wie aber sollen Palästinenser zwischen den Trümmern wissen, wo diese Linie verläuft, wenn selbst vom erhöhten Aussichtspunkt der Armee die Bestimmung schwerfällt? Die Linie sei öffentlich bekannt gegeben worden, in sozialen Medien und auf Flugblättern. Verirrte Zivilisten würden „in Echtzeit“ gewarnt. Wer die Warnungen ignoriert, gilt als Gefährdung der Soldaten.
Nadav Schoschani, Sprecher der israelischen Armee, auf dem Gebiet des israelischen Militärpostens, zeigt in Richtung der gelben Linie und die Zerstörung im Gazastreifen östlich von Gaza-Stadt (Palästinensische Gebiete), am 5. November 2025.
Elf Menschen einer Familie waren nach palästinensischen Angaben vor rund zwei Wochen in ihrem Bus durch israelischen Beschuss gestorben. Die Armee gab an, auf ein verdächtiges Fahrzeug geschossen zu haben, das besagte gelbe Linie überschritten habe. Der Tod von Zivilisten sei tragisch und „das letzte Mittel“, sagt Schoschani. Man tue alles, um dies zu verhindern.
Zuletzt am Mittwoch wurden nach Armeeangaben bei zwei separaten Zwischenfällen zwei Personen eliminiert, die die Linie überschritten hatten. Sie seien als Terroristen identifiziert worden. Nach jüngsten Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums in Gaza sind seit Inkrafttreten des Waffenstillstandsabkommens am 11. Oktober 241 Palästinenser durch die israelische Armee getötet worden. Die Behörde machte keine Angaben, wie viele Zivilisten unter den Toten sind. Prüfen lassen sich die Angaben von keiner Seite.
Seine Aufgabe liege darin, Journalisten sehen zu lassen, was die israelische Armee tue, und ihnen entsprechend den Zugang zu gewähren, den die Armee habe, erklärt der Armeesprecher vor den Journalisten des Embeds. Er werde weiterhin wöchentlich Reporter mit der Armee in den Gazastreifen bringen. Die Frage nach unabhängigem Zugang für Journalisten ins Kriegsgebiet bleibt unbeantwortet.
Zerstörung so weit das Auge reicht – Eindrücke aus Gaza
„Die Zwei-Staaten-Lösung ist weiterhin internationaler Konsens“
Kirchenführer besorgt über Gewalt im Westjordanland
Geiseln in Israel angekommen – auch drei Deutsche
Caritas startet großen Hilfseinsatz nach Einigung im Gaza-Konflikt
Zwei Jahre nach Hamas-Angriff: Politik und Kirche mahnen Mut an
Kardinal Pizzaballa zu Gaza-Plan: Atmosphäre der Hoffnung spürbar
Kritik und Zustimmung zu Trumps Gaza-Plan