
„Die Zwei-Staaten-Lösung ist weiterhin internationaler Konsens“
Berlin ‐ Die Waffenruhe zwischen der palästinensischen Terrororganisation Hamas und Israel hält weiter an. Aber wie geht es nun weiter in dem Konflikt? Experten sind sich einig: Der Weg in Richtung Frieden ist auf jeden Fall noch weit.
Aktualisiert: 15.10.2025
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Seit 2020 ist Marc Frings Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Bevor Frings diesen Posten antrat, leitete er fünf Jahre lang das Büro der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung im palästinensischen Ramallah. Auch zuvor hatte Frings, der Politikwissenschaft studierte, immer wieder Berührungspunkte mit dem Nahen Osten. Seinen Zivildienst absolvierte er in Syrien und den Palästinensischen Gebieten. Soeben ist der 43-Jährige von einer viertägigen Reise in die Region zurückgekehrt. Im Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) schildert Frings, welche Perspektiven es nach zwei Jahren Krieg nun für die Palästinenser gibt.
Frage: Wiederaufbau des Gazastreifens – das klingt angesichts der Bilder nach einer schier unlösbaren Aufgabe. Was braucht es jetzt zuerst?
Marc Frings: Es braucht einen uneingeschränkten Zugang humanitärer Organisationen in den Gazastreifen. Schon vor dem Krieg – davon konnte ich mich bis 2019 bei regelmäßigen Aufenthalten im Küstengebiet selbst überzeugen – war die überwältigende Mehrheit auf externe Hilfe angewiesen. Dieser Bedarf hat sich nun auf allen Ebenen ins Uferlose potenziert. Bei einem Gespräch mit der stellvertretenden Generalkommissarin von UNRWA, deren Hauptquartier in Amman angesiedelt ist, habe ich die aktuellen Zahlen präsentiert bekommen.
Frage: Was sagen diese Zahlen?
Frings: Nahezu die komplette Bevölkerung wurde phasenweise zu Binnenflüchtlingen in dem kleinen Gebiet und 80 Prozent der Infrastruktur sind zerstört. Bislang sehen wir keine vereinfachte Zugangspolitik für humanitäre Hilfe. Neben der unmittelbaren Hilfe braucht es einen verlässlichen Zeitplan für den eigentlichen Wiederaufbau, eine Perspektive für einen offenen Gazastreifen und eine konkrete Vision für einen demokratischen palästinensischen Staat. Dieser Aufgabe müssen sich alle in der Region und im Westen stellen, weil zu viele Akteure mitverantwortlich für die politischen und historischen Versäumnisse sind, die zu der heutigen katastrophalen Lage geführt haben.
Frage: Ein Gordischer Knoten.
Frings: Ich will auch die menschliche Dimension benennen: über 65.000 Menschen – vielleicht auch viel mehr – wurden in Gaza getötet. Es braucht individuelle und kollektive Traumatherapie, damit die palästinensische Gesellschaft in Gaza mit dieser schrecklichen Erfahrung einen Umgang findet.
Frage: Was wird aus der Hamas?
Frings: Israel hat sein Kriegsziel, die Hamas zu vernichten, nicht erreicht. Zwei Punkte sind mir hier aus analytischer Perspektive wichtig: Die Hamas hat nicht nur einen militanten Flügel, der sich in Gestalt der Qassam-Brigaden gewaltsam gegen Israel auflehnt. Auch der politische und der soziale Flügel, mit denen die Bewegung weit in die palästinensische Gesellschaft hineinreicht, existieren fort. Zweitens erleben wir, dass die Hamas auch in diesen Stunden selbstbewusst agiert: nach der ersten Rückzugsbewegung der israelischen Armee befinden sich 50 Prozent des Gazastreifens nicht mehr unter israelischer Kontrolle. Hier tritt Hamas nun mit dem Anspruch auf, weiterhin für Ordnung zu sorgen. Sie ging in den letzten Tagen bereits mit Waffengewalt gegen Oppositionelle und Kollaborateure vor.
Auch die Gewalt im Westjordanland hat zugenommen
Frage: Das heißt in der Konsequenz?
Frings: Gelingt es der Hamas, über ihr regionales islamistisches Netzwerk neue oder alte Unterstützung zu generieren, wird sie weiterhin ein Konfliktakteur bleiben, weil sie die dominierende Kraft im Spektrum des politischen Islams in Palästina ist. Deshalb ist es umso wichtiger, über Reformen der politischen Erneuerung in allen besetzten Gebieten nachzudenken: das Einhegen der Hamas muss auch innenpolitisch durch Reformen der Autonomiebehörde vorangebracht werden.
Frage: Welche Rollen können die Kirchen im Nahen Osten spielen?
Frings: Die Kirche ist auf drei Ebenen gefordert: zum einen müssen wir uns der Frage aussetzen, was konkret für die palästinensischen Christen in Gaza getan wurde – und was versäumt wurde. Ihre Zahl lag vor dem Krieg bei circa 1.000. Ob und wie es nun überhaupt noch christliches Leben in Gaza geben wird, ist wegen der fehlenden unabhängigen Berichterstattung völlig unklar. Auch Gewalt gegen Christen im Westjordanland hat zuletzt deutlich zugenommen. Das sollte uns viel mehr Sorgen bereiten!
Frage: Zweitens?
Frings: Blicke ich auf die humanitäre und entwicklungspolitische Hilfe der Kirchen, die zweifelsohne beeindruckend ist. Aber ich denke, dass der aktuelle Ausnahmezustand von einer guten kirchlichen Geberkoordination abhängig ist, damit man sich nicht gegenseitig blockiert. Und drittens müssen wir unsere christliche Überzeugung gerade jetzt zur Anwendung bringen: Relativierungen und Rechtfertigungen von Kriegshandlungen sollten uns fernliegen. Politisch gesprochen sollte Kirche alles dafür tun, damit die Politik dem Völkerrecht folgt - und nicht das Völkerrecht der Politik.
Frage: Ägyptens Präsident al-Sisi hat in Scharm el-Scheich abermals die Zwei-Staaten-Lösung als einzige Möglichkeit ins Spiel gebracht, mit der sich der Konflikt dauerhaft lösen ließe. Wie realistisch ist das?
Frings: Die Zwei-Staaten-Lösung ist weiterhin internationaler Konsens. Aus völkerrechtlicher Perspektive ist sie der einzige Weg, um dem palästinensischen Selbstbestimmungsrecht gerecht zu werden. Um sich knapp 30 Jahre nach dem Osloer Friedensprozess zwei Staaten vorzustellen, benötigt man heute sehr viel Fantasie: Der Ausbau der illegalen Siedlungen, der von Gewalt extremistischer Siedler gegen die Zivilbevölkerung begleitet wird, schreitet ungebremst voran, während die israelische Armee immer seltener dagegen vorgeht.
„In den 20 Punkten geht es nicht um die Lage im Westjordanland, es geht nicht um die palästinensische Führung in Ramallah - und vor allem geht es in keiner Zeile darum, wie der israelisch-palästinensische Konflikt selbst gelöst wird“
Frage: Das sieht nicht gerade nach Deeskalation aus...
Frings: Auch ist das israelische Militär nahezu täglich in palästinensischen Städten des Westjordanlandes wieder präsent - solche Provokationen kenne ich persönlich nur aus der Zeit der Zweiten Intifada ab 2000. Zugleich hat sich das politische Spektrum Israels ins Extreme verschoben: die Stimmen jener, die offen für Annexion und Vertreibung optieren, mehren sich.
Frage: Was beobachten Sie auf der palästinensischen Seite?
Frings: Auch die palästinensische Führung bereitet mir Sorgen: zwar ist Präsident Mahmud Abbas starker Befürworter einer friedlichen Konfliktregelung entlang europäischer Vorstellungen, aber auch er hält sich vor allem mittels autoritärer Herrschaftszüge an der Spitze der Autonomiebehörde: Wahlen sind seit 16 Jahren überfällig, sein Rückhalt ist sehr gering; die Spaltung zwischen Gaza und Westjordanland ist zur Normalität verkommen.
Frage: Was sollte Europa tun?
Frings: Brüssel und Berlin müssen die zweite Phase von Trumps Friedensplan mit dem Anspruch verknüpfen, eine politische Rolle zu übernehmen. Natürlich muss der Zivilbevölkerung in Gaza bedingungslos geholfen werden. Aber auf die Führungen in Ramallah und Tel Aviv muss der Druck erhöht werden. Nur so können die Europäer verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen. Das passiert vor allem dadurch, dass der Plan um jene Kapitel fortgeschrieben wird, die gänzlich fehlen.
Frage: Welche sind das?
Frings: In den 20 Punkten geht es nicht um die Lage im Westjordanland, es geht nicht um die palästinensische Führung in Ramallah - und vor allem geht es in keiner Zeile darum, wie der israelisch-palästinensische Konflikt selbst gelöst wird. Gelingt eine ambitioniertere Nahostpolitik nicht, wäre es ratsam, in sämtlichen europäischen Planungsstäben Szenarien über Alternativen zur Zwei-Staaten-Lösung anzustellen. Spätestens dann sollte jedem klar werden, dass die politischen, humanitären und wirtschaftlichen Kosten einer Verhinderung palästinensischer Staatswerdung viel höhere Kosten und noch mehr Leid provozieren würde.

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