„Am Anfang steht immer das Erschrecken“
Nürnberg/Oswiecim ‐ Seit 35 Jahren setzt sich der deutsche Priester Manfred Deselaers in Auschwitz für Versöhnung ein. Im Interview erklärt er, welche Botschaft von Auschwitz ausgeht und wie der 7. Oktober 2023 seine Arbeit beeinflusst.
Aktualisiert: 04.10.2024
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Seit rund 35 Jahren lebt und arbeitet der Aachener Priester Manfred Deselaers in der Nähe des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz. Am katholischen Zentrum für Dialog und Gebet am Rande der Gedenkstätte setzt er sich für die Versöhnungsarbeit ein und hat ein offenes Ohr für Besucher. Mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) sprach er bei einem Aufenthalt in Nürnberg über Menschenwürde, Migration und die Frage, was Auschwitz mit dem Hamas-Angriff auf Israel zu tun hat.
Frage: Herr Deselaers, wie ist es, an einem Ort zu arbeiten, der mit so viel Leid verbunden ist?
Deselaers: Das Leid ist Vergangenheit. Natürlich erinnert man sich daran. Aber meine Aufgabe ist es vor allem, Menschen zu begleiten, die den Besuch der Gedenkstätte verarbeiten müssen.
Frage: Was beschäftigt diese am meisten?
Deselaers: Am Anfang steht immer das Erschrecken über die Ausmaße. Das betrifft die Anlage, aber auch die Erkenntnis, dass hier die Menschlichkeit verloren ging. Menschen waren nur wichtig, wenn sie arbeiten konnten. Dass eine solche Ideologie derart funktioniert hat, erschüttert einen.
Frage: Sie sind Priester. Was sagen Sie Menschen, die in Auschwitz nach Antworten suchen, aber keinen spirituellen Hintergrund haben?
Deselaers: Auch religiöse Menschen kann man fragen, wer oder was „Gott“ ist, der hier nicht eingegriffen hat. Wer ohne Bezug zu jeglicher Religion ist, dem kann ich sagen: Was hier passiert ist, ist die Frucht einer Weltanschauung. Die Frage nach deiner Weltanschauung stellt sich hier also auch. Was glaubst du in Bezug auf die Würde der Menschen? Wenn du „Nie wieder“ sagst, musst du auch sagen, an welchen Werten du dich orientierst.
„Echte Verantwortung funktioniert nur, indem man Kontakt zu den Menschen sucht“
Frage: Welchen Einfluss hat Ihre Arbeit auf Ihren Glauben?
Deselaers: Mein Glaube ist tiefer geworden. Die NS-Ideologie, wonach die Häftlinge keine Würde hatten, war falsch. Ich glaube daran, dass sie von Gott geliebt wurden. Dies bestätigt sich für mich in den Begegnungen mit ehemaligen Häftlingen. Es gibt Leute, die an diesem Ort verzweifelt sind. Andere wiederum sagen, ihr Glaube habe sie am Leben erhalten. Vorbilder wie Maximilian Kolbe, der sein Leben für einen anderen Häftling gegeben hat, verbinden sich für mich mit dem christlichen Auferstehungsglauben. Aber nach Auschwitz braucht es auch eine christliche Gewissenserforschung: Wo haben Christen versagt? Beides gehört zusammen.
Frage: Welchen Austausch gibt es mit Vertretern des Judentums?
Deselaers: Juden kommen nicht zuerst nach Auschwitz, um mit einem deutschen Priester zu reden. Ich begegne nur denen, die mir begegnen wollen. Wenn wir etwas zusammen machen, dann steht das Gedenken im Vordergrund. Wenn wir über Glaubensfragen reden, dann geht es in erster Linie um unser gemeinsames Menschenbild und die gemeinsame Verantwortung.
Frage: Kann das Andenken an Auschwitz jemals enden?
Deselaers: Auschwitz ist nicht mehr so präsent wie zwei Generationen zuvor. Aber die Erschütterung darüber, dass so etwas möglich war, muss bleiben. Zu begreifen, dass es auch an meiner Verantwortung liegt, dass sich so etwas nicht wiederholt, ist ganz wichtig.
Frage: Tun wir genug, um das zu verhindern?
Deselaers: Wir tun nie genug. Wir brauchen eine Vision, wie unsere Welt funktionieren soll. Natürlich gibt es Themen wie etwa die Migration, die Probleme machen. Aber mit diesen müssen wir lernen umzugehen. Die Frage ist, wie sieht unsere Beziehung zu jenen Frauen und Männern aus, die in unser Land kommen wollen. Bleiben sie meine Brüder und Schwestern oder sind das Menschen, die einfach nur wegsollen? Die Achtung vor dem anderen darf nicht verloren gehen.
Frage: Welche Ereignisse wirken sich auf Ihre Arbeit aus?
Deselaers: In Polen gibt es eine große Sensibilität für das Nachbarland Ukraine. Auch ich fühle mich als Nachbar und will nicht wegschauen, sondern mich fragen, was meine Verantwortung ist. Ich vermisse in Deutschland das Bewusstsein dafür, wie nah dieser Krieg ist. Die Geflüchteten sind hier, und wir diskutieren über Kriegsfähigkeit. Echte Verantwortung funktioniert nur, indem man Kontakt zu den Menschen sucht.
Frage: Und die aktuelle Lage in Israel?
Deselaers: Auf den Schock des Holocaust war für Juden die wichtigste Antwort das Entstehen des Staates Israel als Heimat für ihr Volk. Jeder Jude hat das Recht, Bürger von Israel zu werden. Es ist Teil des Problems, dass die Palästinenser dieses Recht nicht haben. Aber diese Rückkehr war für die Juden wie eine Lebensversicherung. Am 7. Oktober 2023 ist mit dem Terrorangriff der Hamas etwas kaputt gegangen. Wenn heute Juden in Auschwitz vor den Krematorien stehen, denken sie: Es hat wieder angefangen. Das ist ein existenzielles Verunsicherungsgefühl. Natürlich ist das hier Thema.
Frage: Welche Hoffnung ziehen Sie aus Ihrer Arbeit?
Deselaers: Man muss in Auschwitz das Gute suchen, das zu beschützen gewesen wäre: Zum Beispiel die Kraft der Botschaft von der Würde aller Menschen. Nicht die Nazis haben das letzte Wort über Auschwitz, sondern diese Botschaft. Dass diese besonders stark strahlt, ist meine Hoffnung. Längst ist der Tag der Befreiung von Auschwitz zu einem Treffpunkt von Politikern aus der ganzen Welt geworden. Die kommen nicht nur, um das Ende von etwas Bösem zu feiern. Sie spüren vielmehr, dass dieser Ort eine positive Verpflichtung in sich birgt.