Caroline Kemuma Oenga in dem von ihr geführten Lebensmittelladen am 27. April 2024 in Nairobi (Kenia).
Münchner Hilfswerk stützt in Kenia Kampf gegen moderne Sklaverei

„Sie wissen nicht, dass wir Menschen sind“

Nairobi/München  ‐ Schätzungen zufolge leben weltweit 50 Millionen Menschen in moderner Sklaverei. Dagegen engagiert sich die kenianische Organisation HAART. Mit Unterstützung aus Bayern hilft sie Betroffenen, die Furchtbares berichten.

Erstellt: 09.06.2024
Aktualisiert: 06.06.2024
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Von Christopher Beschnitt/KNA

Der einen wurde ein Stück vom Ohr abgebissen, die andere bekam nur Brot zu essen. Caroline Kemuma Oenga (29, Artikelbild oben) und Maxmilla Waithera (36) haben wegen der Arbeit ihre Heimat Kenia verlassen. Doch in der Ferne machten sie nicht das große Geld, sondern schlimme Erfahrungen. Die Frauen wurden behandelt wie Sklaven.

Heute leben Oenga und Waithera in Kenias Hauptstadt Nairobi. Beide betreiben kleine Geschäfte. Ihr „Business“, wie sie sagen, haben die zwei der ebenfalls in Nairobi ansässigen Menschenrechtsorganisation HAART zu verdanken. Deren Kürzel klingt nach dem englischen Wort für Herz und leitet sich von „Awareness Against Human Trafficking“ ab („Aufklärung gegen Menschenhandel“). Gefördert wird das Programm vom katholischen Hilfswerk Missio München.

„Schätzungen zufolge leben weltweit 50 Millionen Menschen in moderner Sklaverei“, sagt die HAART-Menschenrechtsaktivistin Winnie Mutevu. „Sie erleiden körperliche, seelische und sexuelle Gewalt. Fast drei Viertel der Betroffenen sind Frauen und Mädchen.“ Kenia sei zugleich Ursprungsland, Transitort und Ziel vieler Opfer von Menschenhandel.

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Winnie Mutevu, Menschenrechtsaktivistin der kenianischen Hilfsorganisation Awareness Against Human Trafficking (HAART, dt.: Bewusstsein gegen Menschenhandel), im April 2024 in Nairobi.

Beim Einsatz dagegen baut HAART auf vier Säulen, wie Mutevu sagt: Prävention, Schutz, Strafverfolgung, Vernetzung. „Um die ersten drei Ansätze zu verwirklichen, ist der vierte so wichtig: die enge Zusammenarbeit mit Kirche, Polizei, Regierungsstellen sowie Rechtsanwälten und -anwältinnen. Wir warnen zum Beispiel in gefährdeten Milieus vor den Methoden der Menschenhändler und informieren über sichere Möglichkeiten der Arbeitsmigration.“ Betroffenen stelle HAART zudem Schutzräume zur Verfügung. Ferner gebe es Anschubhilfen für den Neustart nach dem Trauma.

Davon profitieren auch Caroline Kemuma Oenga und Maxmilla Waithera. In den von HAART eingerichteten Hütten verkauft Oenga Lebensmittel und Waithera frisiert Köpfe; zudem bietet sie vor ihrem Salon noch einen Waschdienst für Fahrzeuge an. So können die Frauen nun ihr Leben bestreiten – ein selbstbestimmtes Leben. Das war ihnen zwischenzeitlich genommen worden.

Opferzahlen unbekannt

Oenga war 2019 für 15 Monate nach Saudi-Arabien gegangen, wie sie erzählt. Sie habe gehört, dort könne man als Hausmädchen gut verdienen. Das erste halbe Jahr indes habe sie wegen Corona nicht arbeiten können, ihre Vermittlungsagentur sie währenddessen nur mit dem Nötigsten versorgt. „Als ich endlich arbeiten durfte, musste ich nicht nur wie vereinbart bei einer Familie putzen, sondern auch bei diversen Verwandten.“

Dann habe sie plötzlich wegen Magenschmerzen ins Krankenhaus gemusst, fährt Oenga fort. Daraufhin habe die Agentur sie nach Kenia zurückgeschickt. Nur kurz sei sie daheim geblieben, dann wieder ausgereist, diesmal nach Dubai. Acht Monate habe sie dort gelebt, jedoch nie gearbeitet, weil sie kein Visum erhalten habe. „Als ich mal wieder bei der Agentur nach Arbeit gefragt habe, ist die Agentin ausgeflippt und hat mir Teile meines rechten Ohrs abgebissen.“ Ihr Cousin habe sie schließlich aus Dubai herausgeholt. „Aus einer abgelegenen Kammer. Geschlafen habe ich auf einer Decke auf dem Boden.“

Maxmilla Waitheras Schilderungen klingen ähnlich. Sie war ebenfalls in Saudi-Arabien, drei Jahre lang, wie die Frau erzählt. „Ich musste mich um elf Haushalte kümmern und nicht um sechs, wie es geheißen hatte. Statt der 1.100 versprochenen Rial im Monat bekam ich nur 800.“ Einmal sei sie beim Putzen vom Dach gefallen und habe sich am Rücken verletzt. „Ich durfte nicht ins Krankenhaus gehen, bekam nur Tabletten. Bis heute habe ich Schmerzen.“

Wenn die Familie ausgegangen sei, habe man sie eingeschlossen, berichtet Waithera. Als Mahlzeiten habe sie bloß Brot und Tee bekommen. „Deshalb habe ich beim Abwasch heimlich die Reste von den Tellern der anderen geklaubt.“ Drei Stunden nur habe sie nachts schlafen dürfen, in einem stickigen Raum ohne Ventilator – in einem Land mit Klimaanlage als Standardeinrichtung.

Waitheras Stimme bricht leicht, als sie das erzählt; ihre Augen blicken einen lange an, bevor sie sich abwenden. „Sie wissen nicht, dass wir Menschen sind“, sagt sie leise. Eines Nachts sei sie zur Polizei geflohen. Nach acht Monaten in einem Auffanglager habe sie heimfliegen dürfen. „Mit nichts in der Tasche. Aber Gott sei Dank bin ich am Leben. Viele andere sind das nicht.“

HAART bestätigt das. Zahlen zu Todesopfern der modernen Sklaverei gibt es Winnie Mutevu zufolge aber nicht. Zu undurchsichtig sei das kriminelle System dahinter. Klar sei nur: „Der Kampf gegen Menschenhandel muss weitergehen.“

2022 wurde Winnie Mutevu für ihr Engagement mit dem von Missio München ausgelobten Pauline-Jaricot Preis ausgezeichnet.

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