Stefan Heße, Erzbischof von Hamburg, am 4. August 2023 auf dem Weltjugendtag im Parque Eduardo VII. in Lissabon (Portugal).
Nach Einigung zwischen EU-Parlament und Ratspräsidentschaft

Kirchen kritisieren EU-Asylkompromiss als verantwortungslos

Berlin  ‐ Nach langen Verhandlungen ist es gestern zu einer Einigung über die künftige Asylpolitik der Europäischen Union gekommen. Die Kirchen in Deutschland sind damit nicht zufrieden.

Erstellt: 20.12.2023
Aktualisiert: 20.12.2023
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Die Kirchen haben die Einigung auf eine Gemeinsame Europäische Asylpolitik (GEAS) kritisiert. „Das Vorhaben, unschuldige Menschen – auch Familien mit kleinen Kindern – in haftähnlichen Lagern an den EU-Außengrenzen zu internieren, ist verantwortungslos“, erklärten die Kirchen am Mittwoch in Berlin. Statt auf Abschreckung und Abschiebung zu setzen, statt Menschen der Perspektivlosigkeit und Not auszuliefern, müsse in der Europäischen Union endlich ein gemeinsamer Raum des Schutzes und der Solidarität geschaffen werden.

Weiter erklärten der Sonderbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz für Flüchtlingsfragen, Erzbischof Stefan Heße, und der EKD-Beauftragte für Flüchtlingsfragen, Bischof Christian Stäblein, gerade zu Weihnachten werde daran erinnert: „Gott will uns in einem schutzbedürftigen und verletzlichen Kind begegnen. Er kommt als Flüchtlingskind zur Welt.“ Es passe nicht zusammen, Weihnachten zu feiern und den Flüchtlingsschutz zu schwächen.

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Künftig mehr Verfahren an den Außengrenzen

Das Europaparlament und die spanische EU-Ratspräsidentschaft hatten sich in der Nacht auf Mittwoch auf einen Kompromiss für die Reform der europäischen Asyl- und Migrationspolitik verständigt. Künftig muss demnach jeder Flüchtling an den EU-Außengrenzen strikt kontrolliert und registriert werden. Wer nur geringe Aussicht auf Schutz in der EU habe, werde ein rechtsstaatliches Asylverfahren an den Außengrenzen durchlaufen und im Fall einer Ablehnung von dort zurückkehren müssen. Dabei werde besondere Rücksicht auf Kinder genommen, heißt es.

Zudem sieht die neue Verordnung eine verpflichtende Solidarität für EU-Länder vor, die mit hohen Flüchtlingszahlen umgehen müssen. Mitgliedsstaaten, bei denen das nicht der Fall ist, können wählen, ob sie Asylbewerberinnen und -bewerber aufnehmen oder finanzielle Beiträge leisten.

Witten: Flüchtlingsprojekt NesT
Bild: © Marko Orlovic/Deutsche Bischofskonferenz

Der Sonderbeauftragte für Flüchtlingsfragen der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Dr. Stefan Heße (Hamburg), und der Beauftragte für Flüchtlingsfragen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Dr. Christian Stäblein (Berlin), haben sich kürzlich gemeinsam in Witten über das staatlich-zivilgesellschaftliche Aufnahmeprogramm „Neustart im Team“ (NesT) informiert.

Weiter erklärten die Kirchen, ebenso kritisch seien Versuche, den Flüchtlingsschutz in sogenannte sichere Drittstaaten außerhalb der EU auslagern zu wollen. Das hatte unter anderem der CDU-Bundestagsabgeordnete Jens Spahn gefordert. Stattdessen müsse jede Person, die in einem EU-Land Schutz erbitte, Anspruch auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren erhalten. Gerade für Politikerinnen und Politiker, die sich am christlichen Menschenbild orientierten und die sich den Begriff der Humanität auf die Fahnen schrieben, sollte das Eintreten für den Flüchtlingsschutz ein Herzensanliegen sein.

Die Erklärung der Flüchtlingsbischöfe

„An Weihnachten werden wir jedes Jahr erneut daran erinnert: Gott will uns in einem schutzbedürftigen und verletzlichen Kind begegnen. Er kommt als Flüchtlingskind zur Welt. Weihnachten zu feiern und den Flüchtlingsschutz zu schwächen – das passt nicht zusammen. Daher schauen wir als Kirchen mit großer Sorge auf die flüchtlingspolitischen Debatten und die geplanten Verschärfungen in Deutschland und Europa. Gemeinsam treten wir für einen starken Flüchtlingsschutz ein, dessen Maßstab die Menschenrechte und die Menschenwürde sind.

Um die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems wurde lange gerungen. Gemeinsame europäische Antworten sind notwendig. Aber: Das Vorhaben, unschuldige Menschen – auch Familien mit kleinen Kindern – in haftähnlichen Lagern an den EU-Außengrenzen zu internieren, ist verantwortungslos. Statt auf Abschreckung und Abschiebung zu setzen, statt Menschen der Perspektivlosigkeit und Not auszuliefern, müssen wir in der Europäischen Union endlich einen gemeinsamen Raum des Schutzes und der Solidarität schaffen. Der Umgang mit Geflüchteten ist eine Frage der Würde, auch unserer eigenen. In einer Welt, in der mehr als 110 Millionen Menschen gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, kann unsere Antwort nicht Abweisung lauten.

Ebenso kritisch sehen wir daher die Versuche, den Flüchtlingsschutz in sogenannte sichere Drittstaaten außerhalb der EU auslagern zu wollen. Jede Person, die in einem EU-Land Schutz erbittet, hat Anspruch auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren. Gerade für Politikerinnen und Politiker, die sich am christlichen Menschenbild orientieren und die sich den Begriff der Humanität auf die Fahnen schreiben, sollte das Eintreten für den Flüchtlingsschutz ein Herzensanliegen sein.

Der Platz von Christinnen und Christen ist an der Seite der Schutzsuchenden. Sich der Verantwortung zu entledigen, ist für uns keine Option.“

Außenministerin Baerbock: Deutschland konnte Verbesserungen erzielen

Während Kirchen und Asylverbände fürchten, dass humanitäre Standards verloren gehen, sieht Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) in der Einigung den Schlüssel für eine Steuerung und Ordnung der Migration.

Künftig muss demnach jeder Flüchtling an den EU-Außengrenzen strikt kontrolliert und registriert werden. Wer nur geringe Aussicht auf Schutz in der EU habe, werde ein rechtsstaatliches Asylverfahren an den Außengrenzen durchlaufen und im Fall einer Ablehnung von dort zurückkehren müssen. Dabei werde besondere Rücksicht auf Kinder genommen, heißt es. Zudem sieht die neue Verordnung eine verpflichtende Solidarität für EU-Länder vor, die mit hohen Flüchtlingszahlen umgehen müssen. Mitgliedsstaaten, bei denen das nicht der Fall ist, können wählen, ob sie Asylbewerberinnen und -bewerber aufnehmen oder finanzielle Beiträge leisten.

Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) bedauerte, dass Deutschland sich nicht mit seiner Forderung habe durchsetzen können, dass Kinder und Familien aus den Grenzverfahren ausgenommen würden. Sie betonte aber zugleich, dass Deutschland in den vergangenen Monaten noch Verbesserungen in harten Verhandlungen habe erzielen können. So blieben auch im Ausnahmefall der Krise humanitäre Standards erhalten.

Sie begrüßte, dass mit der Regelung erstmals die EU-Mitgliedstaaten zu Solidarität verpflichtet würden. Damit steige Europa endlich in eine faire Verteilung der geflüchteten Menschen ein. Baerbock: „Die unmenschlichen Zustände an der EU-Außengrenze dürfen nicht das Gesicht bleiben, das Europa der Welt zeigt.“

Formale Zustimmung im Parlament und Rat steht noch aus

Pro Asyl zeigte sich entsetzt über den Kompromiss. Dieser von den europäischen Gesetzgebern beschlossene Abbau von Menschenrechten im Flüchtlingsschutz versperre für viele den Zugang zu Schutz und errichte ein System der Haftlager für Menschen, „die fliehen und nichts verbrochen haben – selbst für Kinder und ihre Familien“. Durch die Ausweitung des Konzepts der „sicheren Drittstaaten“ befürchtet der Verband „neue menschenrechtswidrige Deals mit autokratischen Regierungen, durch die EU-Länder sich vom Flüchtlingsschutz freikaufen wollen“.

Ähnlich äußerte sich die Arbeiterwohlfahrt. Vom Flüchtlingsschutz in Europa bleibe kaum etwas übrig. Menschen, die zu den Schutzbedürftigsten der Welt zählten, könnten jetzt monatelang in Lagern inhaftiert werden. Ihnen könne der Zugang zum Asylverfahren verwehrt werden, sodass sie ohne Prüfung ihres Schutzes nach der Genfer Flüchtlingskonvention in Drittstaaten abgeschoben würden. „Für Europa - die stolze Verfechterin von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten – ist diese Einigung ein Armutszeugnis“, so die Arbeiterwohlfahrt.

Die nun erzielte informelle Einigung muss noch vom Plenum des Europäischen Parlaments und vom Rat formell verabschiedet werden. Die Reform soll vor der Europawahl am 9. Juni abgeschlossen werden.

KNA

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