„Kinder und Jugendliche sind von den Auswirkungen des Klimawandels stark betroffen“
Aachen/Bogotá ‐ Adán Martínez leitet die Stiftung FUCAI in Kolumbien. Im Interview berichtet der Sternsinger-Partner über die Situation von Mensch und Umwelt in Amazonien, die Sorgen von Kindern und die Arbeit seiner Organisation.
Aktualisiert: 20.11.2023
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Frage: Herr Martínez, Wie groß schätzen Sie die ökologische Bedrohung in Amazonien ein? Inwiefern sind die Umwelt und ihre Ressourcen gefährdet und durch wen?
Adán Martínez: Nach Angaben des kolumbianischen Umweltministeriums wurden allein im sogenannten Amazonasbogen, einem Gebiet das sich über 16 Gemeinden erstreckt, in den vergangenen 21 Jahren insgesamt 1.858.285 Hektar Regenwald abgeholzt. Gründe dafür waren vor allem Viehzucht, der Ausbau von Straßen, Holzgewinnung, illegaler Anbau und Bergbau. In einigen Kommunen sind inzwischen bis zu 20 Prozent der Waldfläche abgeholzt.
Die fortschreitende Entwaldung wirkt sich auf das Klima in Amazonien aus. Den Menschen dort bleiben immer weniger natürliche Ressourcen und auch der Lebensraum von Tieren, die den Amazonasbewohnern als Nahrung dienen, wird immer kleiner. Der Klimawandel wirkt sich auch auf die Flussläufe und die Fischbestände aus. Die wichtige Nahrungs- und Proteinquelle für die Menschen der Region nimmt weiter ab. Auch die Ernteerträge werden weniger und die Menschen benötigen immer größere Anbauflächen, um ihre Lebensweise aufrecht erhalten zu können. Hinzu kommt, dass auch die Regenzeit schwieriger vorherzusagen ist.
Frage: Inwiefern bedroht dies das Leben von Kindern und Jugendlichen? Wie wird ihr Recht auf eine gesunde Umwelt missachtet?
Martínez: Die Kinder und Jugendlichen sind von den Auswirkungen des Klimawandels stark betroffen – und wissen das auch. Laut Kinderhilfswerk „Save the Children“ trifft 80 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Lateinamerika und der Karibik mindestens einmal im Jahr ein Extremwetterereignis. Eine Umfrage der Organisation unter 971 kolumbianischen Jungen und Mädchen ergab: 76,5 Prozent haben das Gefühl, dass der Klimawandel sie oder andere betrifft und 70,65 Prozent sind der Meinung, dass Erwachsene nicht genug für die Umwelt tun. 62,1 Prozent denken, dass die kolumbianische Gesellschaft sehr ungleich ist und dass sich der Klimawandel vor allem auf Kinder und Jugendliche aus den am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen auswirkt.
Der Bericht ergab auch, dass 60,6 Prozent der Befragten bereits schulische oder kommunale Umweltaktivitäten organisiert haben – das sind fast doppelt so viele wie weltweit (35 Prozent). Dieser Wirklichkeit widerspricht die Tatsache, dass Minderjährige auf der Weltklimakonferenz nicht als Akteure des Wandels anerkannt wurden. Die Umfrage benennt außerdem das Phänomen der sogenannten Öko-Angst, die Kinder und Jugendliche angesichts ihrer Sorge über die Auswirkungen menschlichen Handelns auf die Umwelt entwickeln.
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Frage: Wie bewusst ist den Kindern und Jugendlichen die Bedrohung ihrer Umwelt?
Martínez: Sie sind sich dessen bewusst! Junge Menschen sehen die Bedrohungen ihres Lebensumfelds, die Veränderungen in den Jahreszeiten, der Sonne, der Ernten, im Fluss und bei der Fischerei, die als Folge der Klimaveränderungen in den letzten zehn Jahren entstanden sind. Allerdings fällt es ihnen schwer, die derzeitige globale Krise zu messen und die Bedeutung des Amazonas für die Regulierung des globalen Klimas zu definieren.
Frage: Drücken sie ihre Ängste aus und wie?
Martínez: Ja, sie drücken ihre Angst auf vielfältige Weise aus – zum Beispiel in ihren Fragen nach den Ursachen. Kinder wollen wissen, was sie tun können, um den Problemen des Klimawandels zu begegnen. Sie verstehen nicht, warum sie und ihre Familien die größten Konsequenzen tragen müssen, wo doch die größten Verschmutzungsquellen in weit entfernten Ländern liegen. Gemeinsam mit FUCAI haben die Eltern Waldgärten angelegt. Experten haben errechnet, dass ein solcher Garten jährlich zwar sechs Tonnen umweltschädliche Gase erzeugt, im gleichen Zeitraum jedoch 46 Tonnen derselben Gase kompensiert. Als wir den Kindern und Jugendlichen von diesen Ergebnissen erzählt haben, waren sie sprachlos.
Frage: Wie reagieren die Erwachsenen auf die Ängste der Kinder?
Martínez: Die Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen hat sich aus verschiedenen Gründen verschlechtert. Unterrichtsinhalte haben nichts mit der Lebensrealität von Kindern und Jugendlichen zu tun. Die Medien, allen voran die sozialen Netzwerke, verkaufen Lebensmodelle, die auf individuellem Erfolg, rücksichtsloser Ausbeutung von Ressourcen und Konsum basieren und die kulturellen Praktiken sowie die Identität der indigenen Völker stigmatisieren. Durch sie haben Kinder und Jugendliche das Vertrauen in diejenigen Erwachsenen verloren, die ein traditionelles Modell, basierend auf Gemeinschaftsleben und -arbeit und dem Respekt für natürliche Ressourcen, leben und verteidigen.
Andererseits verstehen viele Erwachsene die Umweltprobleme, insbesondere den Klimawandel, nicht. Kinder und Jugendliche sind dafür empfänglicher. Dadurch wird der Dialog zwischen den Generationen immer schwieriger und ein Stück weit werden Kinder und Jugendliche mit ihren Ängsten allein gelassen. Das Projekt, das FUCAI mithilfe des Kindermissionswerks ins Leben gerufen hat, soll den Austausch zwischen Kindern, Jugendlichen, Eltern, Lehrern und Autoritäten fördern. Die Resonanz war bisher sehr positiv und in einer Gemeinde haben sich Behörden und Eltern sogar ausdrücklich dazu verpflichtet, die Sichtweise von Kindern und Jugendlichen zu berücksichtigen in der Stadt.
Frage: Thematisiert die Politik die Umweltbedrohung und die Herausforderungen des Klimawandels?
Martínez: Die nationale Regierung behandelt diese Probleme ganz anders als lokale Regierungen. Bei diesen ist das Engagement noch ganz am Anfang. Mangelnde Vorbereitung und viel Korruption führen im Amazonasgebiet dazu, dass die Politik Umweltfragen in ihren Budgets und Entwicklungsplänen nicht berücksichtigt. Die Zertifizierung von einheimischem Saatgut, die Wiederaufforstung des Regenwalds, der Umgang mit umweltschädlichen Rückständen, Umwelterziehung, Wasseraufbereitung und andere wichtige Themen tauchen in ihren Plänen nicht auf. Alles, was sich auf lokaler Ebene in Umweltangelegenheiten tut, geschieht nicht auf Initiative von Politikern und lokalen Regierungen, sondern auf Initiative von Lehrkräften, aufmerksamen lokalen Autoritäten und Nichtregierungsorganisationen.
Frage: Wie hat sich das Umweltbewusstsein der Menschen in Amazonien in den vergangenen Jahren entwickelt?
Martínez: Gruppen, die von Lehrkräften, FUCAI oder anderen Organisationen begleitet werden, haben ihr Umweltbewusstsein weiterentwickelt. Sie verstehen mittlerweile die Kohlenstoff- und Wasserkreisläufe. In den Amazonas-Gemeinden, in denen FUCAI arbeitet, haben die Menschen die Bedeutung Amazoniens als klimaregulierendes Ökosystem erkannt. Sie wissen, welche Rolle die Region bei den Herausforderungen spielt, vor denen die Menschheit steht.
Frage: Was sind die Schwerpunkte Ihrer Ökologieprogramme bzw. -kurse?
Martínez: FUCAI fördert das Verständnis für die komplexen Böden- und Ökosysteme. Basierend auf indigenem Wissen haben wir methodische Werkzeuge für Eltern und Kinder entwickelt, die den Wissensaustausch anregen und eine regenerative, kohlenstoffarme Landwirtschaft wiederbeleben sollen. Gemeinsam mit den Kindern betrachten wir auch die Daten, die indigene Organisationen und Autoritäten zu sozioökonomischen Problemen und den natürlichen Ressourcen der Region erheben. Wir möchten die Kinder und ihre Familien dazu befähigen, Einfluss auf politische Maßnahmen zu nehmen und gleichzeitig ihre Beteiligung an Entscheidungsprozessen fördern. Anhand von Satellitenkarten kann FUCAI die Umweltprobleme der Region sehr klar und konkret veranschaulichen.
„Wir möchten die Kinder und ihre Familien dazu befähigen, Einfluss auf politische Maßnahmen zu nehmen und gleichzeitig ihre Beteiligung an Entscheidungsprozessen fördern.“
Frage: Woraus schöpfen Sie Hoffnung und Zuversicht?
Martínez: Die indigenen Gemeinschaften selbst und ihre Bereitschaft, an unseren Programmen teilzunehmen, schenken mir Hoffnung und Zuversicht. Außerdem die Fähigkeit der Kinder und Jugendlichen, ihre Gemeinschaften zu mobilisieren, um längst vergessene Probleme gemeinsam anzugehen. Die Gemeinschaften betreiben Wiederaufforstung, haben innovative Lösungsansätze und beleben ihre Kultur, indem sie ihre Kinder in den Mittelpunkt stellen. Für FUCAI ist außerdem das Thema indigener und christlicher Spiritualität sehr wichtig, wie es Papst Franziskus in seiner Enzyklika Laudato Si‘ behandelt.
Frage: Bitte beenden Sie folgenden Satz: Eine intakte Umwelt bedeutet für mich…
Martínez: ... gut zu leben, stolz darauf zu sein, wer ich bin und woher ich komme, ohne das Wohlergehen zukünftiger Generationen zu opfern; biologische, kulturelle und soziale Vielfalt anzunehmen und wertzuschätzen.
Frage: Und diesen Satz: Das Kinderrecht auf eine gesunde Umwelt beinhaltet...
Martínez: ... eine tiefe und gesunde Beziehung zu ihrem rechtlich gesicherten Territorium, zu ihrer Identität, ihrer Familie und ihrer Gemeinschaft, frei von bewaffneten Konflikten, frei von Drogenhandel, rücksichtsloser Ausbeutung und chemischen Produkten, die die Gesundheit schädigen.
Die Fragen stellte Susanne Dietmann/Kindermissionswerk ‚Die Sternsinger‘