Domenico Pugliese, Kapitän des Rettungsschiffs "Life Support" der italienischen Hilfsorganisation Emergency, bei einem Einsatz zur Rettung von Menschen in Seenot am 9. August 2023 im Mittelmeer vor der Küste Libyens.
Zwei Seenotretter über ihre Erlebnisse auf dem Mittelmeer

„Menschen springen lieber ins Wasser, als zurückzukehren“

Rom  ‐ Jeden Tag sterben Menschen bei ihrem Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu flüchten. Als Rettungsschiff-Kapitän versucht Domenico Pugliese möglichst viele von ihnen zu retten. Doch dabei stößt er mit seiner Crew häufig auf Probleme.

Erstellt: 06.09.2023
Aktualisiert: 04.09.2023
Lesedauer: 
Von Severina Bartonitschek (KNA)

Seit Jahresanfang sind 2.264 Menschen im Mittelmeer ertrunken oder werden vermisst – so viele wie seit sechs Jahren nicht mehr. Zivile Rettungsschiffe versuchen zu helfen. Ein neues Gesetz in Italien macht das schwieriger. Bislang 983 Menschen konnte das Schiff „Life Support“ aus dem Mittelmeer retten. Seit Dezember ist die Mannschaft der Organisation Emergency im Einsatz. Der Neapolitaner Domenico Pugliese (52) ist Kapitän, Carlo Maisano (38) aus Genua leitet die Such- und Rettungsaktionen. Beide sind seit der ersten Mission an Bord und haben mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) über ihre Arbeit und über die verschärften Auflagen der rechten Regierung in Italien gesprochen, wo derzeit mehrere Rettungsschiffe festgesetzt sind.

Frage: Herr Pugliese, seit Dezember retten Sie mit ihrer Crew Migranten aus dem Mittelmeer. Wie läuft so ein Einsatz an Bord der „Life Support“ ab?

Pugliese: Bevor wir ein Boot in Seenot finden, sind alle an Bord sehr angespannt und schauen mit Ferngläsern auf das Meer. Weil die Boote hauptsächlich nachts fahren, ist es normalerweise völlig dunkel und wir versuchen, ein paar winzige Lichter auf dem Gewässer zu entdecken. Während der eigentlichen Rettungsaktion arbeiten wir mit Schlauchbooten. Es ist ein sehr heikler Moment, wenn wir uns dann dem Migranten-Boot nähern. Wir müssen den Menschen klarmachen, dass wir Italiener sind und sie nicht nach Libyen zurückbringen wollen. Wir müssen um jeden Preis verhindern, dass sie ins Meer springen. Denn manche Menschen tun das und wollen lieber im Wasser zurückgelassen werden, wenn sie glauben, dass sie wieder nach Libyen gebracht werden sollen.

Frage: Die Menschen kommen aus vielen verschiedenen Ländern. Wie bewerkstelligen Sie da die Kommunikation?

Pugliese: In solchen Momenten spielen unsere Kulturvermittler eine wichtige Rolle. Sie sprechen viele Sprachen und wissen, wie man sich mit Menschen aus Nordafrika, der Subsahara oder dem Mittleren Osten verständigen kann.

Frage: Solche Situationen sind sicherlich nicht nur für die Migranten, sondern auch für die Crew sehr fordernd...

Pugliese: Ja, es kommt zum Beispiel vor, dass wir die Position von einem Boot in Seenot erhalten, es dann aber nicht finden können. Wir wissen dann nicht, was los ist - ob sie zurückgedrängt wurden, der Motor vielleicht wieder angesprungen ist, oder ob etwas Schlimmes passiert ist. Es gibt sehr, sehr angespannte Momente und unsere Mitarbeitenden sind natürlich auch emotional betroffen. Aber: Wir dürfen nicht vergessen, dass wir alles getan haben, was in unserer Macht stand.

Die meisten Rettungsaktionen werden durch Küstenwachen durchgeführt

Frage: Herr Maisano, Sie leiten die Rettungsmissionen. Durch Ihre Arbeit stehen Sie immer wieder in der Kritik beispielsweise Menschenhändlern in die Karten zu spielen.

Maisano: Diesbezüglich gibt es eine Menge Desinformationen. Kürzlich wurde eine wissenschaftliche Arbeit veröffentlicht, in der nachgewiesen wurde, dass die Anwesenheit von Hilfsorganisationen im Mittelmeer nicht zu mehr Abfahrten aus Nordafrika führt. Auch weil der prozentuale Anteil der Nichtregierungsorganisationen an den Rettungsaktionen minimal ist – ich glaube, es sind nur etwa 6 Prozent. Der Rest entfällt auf die Küstenwachen. Die Gründe, warum Menschen ihre Heimat hinter sich lassen, müssen in ihren Herkunftsländern gesucht werden.

Frage: Erzählen die Migranten an Bord von diesen Gründen?

Maisano: Ja, es sind in erster Linie Konflikte und fehlende politsche wie persönliche Freiheit etwa bei der sexuellen Orientierung oder Religion. Auch der Mangel an Menschenrechten, freier Meinungsäußerung oder Bildung sind Gründe. Hinzu kommt der Klimawandel, der es Menschen oft unmöglich macht, von ihrem eigenen Land zu leben. In Verbindung mit der Wirtschaftskrise und dem Mangel an Lebensmitteln beziehungsweise dem Geld, um diese zu kaufen, sehen viele Menschen keine andere Möglichkeit als zu versuchen, ein besseres Leben in Europa zu finden.

Frage: Und nehmen diese gefährliche Reise in Kauf...

Maisano: Das Schockierende ist, die meisten Menschen wissen schon vorher, dass die Reise sehr hart sein wird, dass Frauen vergewaltigt, Menschen gefoltert und versklavt werden. Dass sie vermutlich viel Zeit in libyschen Gefangenenlagern verbringen werden und viele Menschen bei der Durchquerung der Sahara sterben. Trotzdem entscheiden sie sich, ihr Land zu verlassen und ihr Leben und das ihrer Kinder zu riskieren. Und das nicht, weil sie rücksichtslose Eltern sind, sondern weil die Lebensbedingungen in ihren Herkunftsländern inakzeptabel sind. Sie sehen ihre einzige Möglichkeit für eine Zukunft für sich und ihre Familien darin, alles zu riskieren und das Mittelmeer zu überqueren.

Frage: In diesem Jahr hat Italiens Regierung ein Gesetz verabschiedet, das die Arbeit von zivilen Seenotrettern erschwert. Deren Schiffe dürfen nur noch einen Rettungseinsatz pro Fahrt durchführen und müssen danach einen ihnen zugewiesen Hafen anfahren. Bei Verstößen droht eine Festsetzung des Schiffes und Geldstrafen – gerade passiert bei Schiffen der Organisationen Sea-Watch, Sea-Eye und Open Arms aus Deutschland und Spanien. Wie beeinflusst das Dekret Ihre Arbeit?

Maisano: Mit einer Aktion pro Fahrt erreichen wir zumeist nicht die Kapazitäten unseres Schiffes. Wir könnten zwei, drei, vier weitere Rettungen durchführen. Während wir in einen Hafen zurückkehren, fehlt unser Schiff, um Teile dieses riesigen Gewässers abzudecken, in dem es sowieso schon schwierig ist, die kleinen Boote zu finden. Gleiches gilt für die ohnehin wenigen Rettungsschiffe, wenn sie von den Behörden in Häfen festgesetzt werden. Es ist kein Zufall, dass wir in diesem Jahr die meisten Toten im Mittelmeer seit 2017 zu beklagen haben – das fällt mit der Einführung dieses neuen Gesetzes zusammen.

Manchmal bekommen wir einen Hafen zugewiesen, der wirklich weit weg ist, etwa sehr weit im Norden. Die Schiffbrüchigen gehen dort an Land und werden dann in eine Region im Süden umgesiedelt. Das macht wirklich keinen Sinn und verschwendet nur Ressourcen und Zeit.

Unterschiedlichste Migrationsgründe

Frage: Zuletzt wurde bekannt, dass das zivile Rettungsschiff „Ocean Viking“ mehrere Einsätze fahren durfte – koordiniert von der italienischen Küstenwache – und dann an einem sizilianischen Hafen anlanden durfte, nicht so weit von den Rettungsstellen. Ändert sich die Haltung in Rom und der EU gerade?

Maisano: Es gab zuletzt einige von Italien koordinierte Fälle zu Mehrfachrettungen – auch bei uns. Ob sich die generelle Haltung zu den zivilen Seenotrettern geändert hat oder es mit der gestiegen Zahl an Überfahrten insbesondere aus Tunesien zu tun hatte, weiß ich nicht. Ich denke, es war auch eine Folge der kürzlichen EU-Resolution für effektivere Einsätze zur Seenotrettung. Damit hat sich etwa auch der Kontakt zu den italienischen Behörden deutlich verbessert. Schnelle Kommunikation, Zusammenarbeit und Koordination entscheidet bei der Seenotrettung über Leben und Tod. Mit einer effizienteren Zusammenarbeit hätten Tragödien wie in Cutro verhindert werden können.

Frage: Was muss sich Ihrer Meinung nach politisch ändern, damit das Sterben auf dem Mittelmeer endet?

Maisano: Den Menschen muss klar gemacht werden, was wirklich auf See und dann an Land passiert. Es handelt sich um einen stetigen Strom von Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen migrieren. Das Thema muss also als etwas Konstantes betrachtet werden, das in einem größeren Maßstab angegangen werden muss. Es handelt sich nicht um einen Notfall. Darum müssen wir ein System schaffen, das Migration als ein normales Phänomen anerkennt und dem mit der richtigen Art von Aufnahme und Gastfreundlichkeit seitens der Institutionen und der Bürger in Italien begegnet wird.

Frage: Herr Pugliese, als Kapitän sind Sie für Ihre Crew sowie die Geretteten verantwortlich. Wenn Sie die Menschen an Land gebracht haben, landen sie oft in überfüllten Flüchtlingslagern. Wie gehen Sie und Ihre Crew mit der Tatsache um, dass Sie die Menschen nach einer Rettung wieder ihrem Schicksal überlassen müssen?

Pugliese: Es ist immer ein schwieriger Moment für uns, wenn wir im Hafen ankommen. Wir waren dann mehrere Tage für das Wohlergehen der Menschen verantwortlich und haben sie gut versorgt. Aber sobald wir an Land sind, müssen wir diese Verantwortung an die staatlichen Stellen und Institutionen delegieren. Das ist emotional sehr schwer, aber diese Momente sind auch Teil unserer Arbeit und wir nehmen uns immer etwas Zeit, um herunterzukommen und darüber zu sprechen. Unsere Aufgabe ist es, Leben auf See zu retten, und das tun wir. Daran müssen wir denken, wenn wir im Hafen ankommen, und uns auf den nächsten Einsatz vorbereiten.

KNA

Mehr zum Thema