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Ein Leben im Krieg – In Odessa suchen die Menschen nach Normalität
Odessa ‐ Bombardierungen, Angst und viele Nächte im Keller. Für Millionen Menschen in der Ukraine ist das zum Alltag geworden. Sie sind auf der Suche nach etwas Normalität, während Odessas Bischof klare Worte vom Papst fordert.
Aktualisiert: 18.11.2024
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Die kleine Sankt-Rafael-Klinik liegt 20 Kilometer von Odessa entfernt im ersten Stock eines Hochhauses. Entstanden aus zwei Wohnungen hat sie vier Behandlungsräume, ein Büro und ein Wartezimmer. Darin riecht es nicht nur nach Desinfektionsspray, sondern auch nach Kaffee. Der Ort ist ein wichtiger Treffpunkt, um von den Kriegserlebnissen abzulenken.
Dennoch bleiben sie allgegenwärtig. Die Zeit bis zur Behandlung überbrücken die Wartenden, die aus besetzten und umkämpften Gebieten nach Odessa geflohen sind, mit Gesprächen über kalte Keller, Luftangriffe und Ortschaften, die bis zu 80 Prozent zerstört wurden. Hinzu kommen alltägliche Probleme. Wer hier sitzt, hat kein Geld für seine Medikamente gegen Bluthochdruck, Diabetes oder Herzerkrankungen. Die behandelnden Ärztinnen Sneschana Eremenko und Kristina Sirotenko können den Patientinnen vor allem Zeit und ein offenes Ohr bieten. Sie unterhalten sich mit ihren Patienten, trinken mit ihnen eine Tasse Kaffee, bevor die Behandlung beginnt.
Der Ukraine-Krieg begann vor 1.000 Tagen. Am Wochenende gab der scheidende US-Präsident Joe Biden zwar grünes Licht für den Einsatz von Waffen mit höherer Reichweite gegen Russland. Die Entscheidung gilt als richtungsweisend. Ein Waffenstillstand ist aber nicht in Sicht.
Deswegen versucht auch die deutsche evangelisch-lutherische Kirche Sankt Paul in Odessa, Alltag mitten im Krieg zu schaffen. An diesem Nachmittag feiern Vera und Valentina, beide über 80 Jahre alt, mit dem Seniorenkreis ihre Geburtstage. Viktor Sabulis, der einzige Mann in der zehnköpfigen Runde, filmt die Feier.
Für die Teilnehmenden ist es nicht der erste Krieg. Dieser lasse jedoch die ganzen Ängste von früher nun wieder lebendig werden, erzählt eine Frau. Es sei nicht richtig zu denken, dass dieser Krieg für Menschen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hatten, einfacher zu ertragen sei, sagt sie.
Viktor Sabulis hält dagegen: „Man kann das, was damals war, nicht mit den heutigen Angriffen auf Odessa und andere ukrainische Städte vergleichen.“ Dann erzählt er seine ganz persönliche Geschichte. „Ich war damals im Ghetto von Odessa eingesperrt, umgeben von Stacheldraht und aggressiven Hunden. Diese Erniedrigungen spüre ich noch heute. Viele meiner Verwandten wurden von den Nazis ermordet. Im Vergleich dazu sind die Luftangriffe auf Odessa in den letzten Wochen und Monaten eine Kleinigkeit.“
Die Kirchen sind so voll wie nie
Ständig mit dem Krieg konfrontiert ist auch der katholische Bischof von Odessa, Stanislaw Schyrokoradjuk. „Unsere Kirche ist so voll wie nie zuvor. Trotz der Abnahme der Einwohnerzahl finden jetzt täglich vier Messen statt. Vor dem Krieg waren es drei“, sagt der Bischof im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
Noch gut könne er sich an die ersten Tage und Wochen des Krieges erinnern. „Überall Panik und Chaos. Die Kirche organisierte Busse für jene, die nicht aus eigener Kraft fliehen konnten, und kümmerte sich um Binnenflüchtlinge, die oft krank oder allein in die Stadt kamen.“ Um beim Überleben in Odessa zu helfen, verteilt die Diözese zweimal wöchentlich an fünf Standorten Lebensmittelpakete an Bedürftige.
Bischof Schyrokoradjuk sind jedoch auch klare Positionen wichtig. „In erster Linie beten wir für den Frieden.“ Die Kirche müsse aber auch die Wahrheit über die Ursachen des Krieges verbreiten. Die Ukraine kämpfe für ihre Unabhängigkeit und Freiheit gegenüber einem russischen Imperialismus, der mit stalinistischen Methoden vorgehe.
Kritik übt er auch an Papst Franziskus. In seinen Appellen für einen Waffenstillstand benenne dieser den Aggressor Russland nicht explizit. Es sei zwar richtig, dass dieser sage ,wir brauchen Frieden‘. „Nur, wie erreicht man Frieden? Der Okkupant bombardiert uns, unsere Krankenhäuser, unsere Schulen. Warum sagt der Papst nicht, wer uns angegriffen hat, wer der Aggressor in diesem Krieg ist?“ Es sei nicht in Ordnung, Menschen das Wasser und den Strom weg zu bomben, Wohnhäuser und Schulen zu bombardieren. Kritisch sieht er auch die russische Propaganda: „Dieser Krieg ist auch deswegen teuflisch, weil Russland seine Bürger zum Hass gegen uns erzieht.“
Eins mache der Papst dennoch. Laut Bischof Schyrokoradjuk sorgt er dafür, dass die Ukraine nicht in Vergessenheit gerät. „Ich bin dem Papst sehr dankbar dafür, dass er jeden Tag, bei jeder Audienz an die Ukraine erinnert und für die Ukraine betet.“
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