
„Der Krieg hat sich tief eingegraben“
Lwiw/Freiburg ‐ Verzweifelte Familien, traumatisierte Kinder, entwurzelte Alte: Die Caritas unterhält in der Ukraine 67 Sozialzentren. Millionen Menschen brauchen Unterstützung. Die Finanzierung der Hilfen wird zunehmend schwierig.
Aktualisiert: 23.05.2025
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Der deutsche Caritas-Bischof Stephan Burger und der Chef der Hilfsorganisation Caritas international, Oliver Müller, sind derzeit in der Ukraine. Sie besuchen Sozialzentren und Hilfsprojekte in der Hauptstadt Kyjiw und in Lwiw sowie Schytomyr. Jährlich organisiert die katholische Organisation über die Caritas Ukraine Hilfen im Wert von 11,5 Millionen Euro. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) berichten Müller und Burger von den Schrecken des Krieges.
Frage: Herr Müller, wo sind Not und Leid der Ukrainer derzeit am größten?
Oliver Müller: Der Krieg hat sich tief in die Gesellschaft eingegraben. Die Schatten des Krieges sind lang. Bedrückend ist das Leiden vieler Familien. Eine Caritas-Psychologin hat uns berichtet, wie sehr sich Kinder und Jugendliche freuen, wenn ihr Vater lebend von der Front zurückkommt. Und wie groß dann das Entsetzen ist, wenn sie merken, da ist eine andere Person zurück: voller Traumata – seelisch und körperlich verletzt. Das kann sich in Sprachlosigkeit niederschlagen oder in häuslicher Gewalt.
Frage: Was ist mit den landesweit 3,5 Millionen Menschen, die innerhalb des Landes vor dem Krieg geflohen sind?
Müller: Sie haben zumeist ihre Sozialkontakte, ihr Umfeld, ihre Lebensaufgabe verloren. Die russischen Angriffe haben 1,4 Millionen Häuser und Wohnungen zerstört. Die Preise für Lebensmittel und Alltagsgüter sind stark gestiegen. Der Krieg ist überall dramatisch spürbar.
Fragen: Haben Sie auch den zentralen Gedenkort für die ukrainischen Kriegsopfer in Kyjiw besucht?
Erzbischof Stephan Burger: Ja, das Meer von Fotos der Gefallenen am Maidan-Platz und der Gedenkmauer zerreißt einem das Herz. Die unzähligen Fotografien, blau-gelben Fahnen und Blumen machen deutlich, wie der Krieg die Zukunft von so vielen Menschen und Familien zerstört.
Frage: Glauben die Menschen noch an einen baldigen Frieden?
Burger: Die Sehnsucht nach Frieden ist sehr groß. Die Menschen fragen sich nur, wie lange sie noch durchhalten können. Resignation habe ich nirgends gespürt.
Frage: Was haben Sie selbst direkt vom Krieg mitbekommen?
Burger: Ich habe viele durch Drohnen und Raketen zerstörte Häuser und beschädigte Infrastruktur gesehen. Wir selbst haben wegen Luftalarm in zwei Nächten in Luftschutzkeller gehen müssen; um zwei und um vier Uhr. Einmal dauerte es vier Stunden bis Entwarnung. Und für die Menschen hier ist das zermürbender Alltag seit drei Jahren.
Frage: Wie versucht Caritas zu helfen?
Müller: Sehr hilfreich sind die landesweit 67 Caritas-Sozialzentren. An diesem Freitag haben wir gerade ein neues großes Zentrum in Lwiw eingeweiht. Die Gründung war nur durch Gelder aus dem Erzbistum Freiburg möglich. Die Zentren bieten an einem Ort verschiedene Unterstützungen: von psychologischen Beratungen für Kinder und Erwachsene, Hauskrankenpflege, humanitäre Hilfen. Menschen können hier Wiederaufbauhilfen erhalten, um ihre Häuser zu reparieren.
Rückgang öffentlicher Mittel sorgt für Verunsicherung
Frage: Sind genügend Gelder für Projekte vorhanden?
Müller: Die Finanzierung wird zunehmend schwierig. Derzeit können wir noch einige Gelder einsetzen, die unmittelbar nach Kriegsbeginn gespendet wurden. Damals war die Spendenbereitschaft enorm groß. Inzwischen erhalten wir weniger, als wir jährlich für die Caritas-Arbeit in der Ukraine benötigen. 2024 waren das in 29 Projekten rund 11,5 Millionen Euro. Erreicht haben wir damit etwa 1,4 Millionen Ukrainer und Ukrainerinnen.
Frage: Wie ist es mit Geldern aus öffentlichen Haushalten?
Müller: Auch bei den vom Bundesentwicklungsministerium und dem Außenministerium bereitgestellten Etats drohen Kürzungen. Für 2025 sind wir noch vorsichtig optimistisch. Nächstes Jahr könnte es kritisch werden. Und die Ukrainer spüren auch, dass die Helfer zunehmend unter Druck geraten. Das sorgt für weitere Verunsicherung, ob und wie die Hilfen weitergehen.
Frage: Welche Begegnung hat Sie während ihrer Reise besonders berührt?
Burger: Sehr erschütternd waren die Begegnungen mit den aus dem Krieg zurückgekehrten Soldaten, die wegen häufig sehr schlimmer Verletzungen nicht mehr kämpfen können. Sie erhalten kaum staatliche Unterstützung. Denn in der Ukraine konzentriert sich alles auf den laufenden Kriegseinsatz an der Front. Sie fühlen sich alleingelassen und sind sehr dankbar, wenn Caritas auf sie zugeht und unterstützen kann.
Frage: Wie gefährlich ist die Arbeit für die Helfer?
Müller: In einigen Regionen ist es sehr schwierig. Wir haben einen Sicherheitsbeauftragten, der die Lage immer neu bewertet. Aber vollständige Sicherheit im Krieg kann es nicht geben. Auch Mitarbeitende der Caritas sind bereits beschossen worden oder sind bei ihrer Arbeit gar ums Leben gekommen. Gerade haben wir gehört, dass Helfer in der ostukrainischen Region Sumy mehr als 20 Stunden lang bei Daueralarm im Luftschutzbunker verbringen mussten.
Frage: Haben Sie auch hoffnungsvolle Momente erlebt?
Burger: Wir konnten sehen, wie Caritas-Hilfen vor dem Krieg im Osten geflohenen Menschen beim Überleben unterstützen. Ich konnte mit zwei hochbetagten Schwestern sprechen. Eine ehemalige Lehrerin im Osten, die nach Kyjiw fliehen musste – und mit über 80 Jahren plötzlich nur noch ihre Schwester hat. Eine Caritas-Mitarbeiterin schaut regelmäßig nach ihnen. Das zeigt, dass unsere Hilfe ankommt.

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