Sprechstunde im Land der Minenfelder
Kiew ‐ Nur noch Ruinen sind von der katholischen Kirche im ukrainischen Kiseliwka geblieben. Nun wurde neben ihr eine mobile Klinik für die Dorfbevölkerung eingerichtet. Mitten drin: zwei Ärztinnen und ein Priester.
Aktualisiert: 28.02.2024
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Starker Nebel liegt über den Feldern, als die beiden Ärztinnen Sneschana Eremenko und Kristina Sirotenko an einem Morgen ihre zweistündige Anfahrt von Odessa in die Dörfer Kiseliwka und Partisanske bei Cherson antreten. Am Steuer sitzt Vitali Nowak, ein katholischer Priester aus Odessa. Nowak, der fließend Italienisch spricht, hat öfter mit Ausländern zu tun, sind doch immer wieder Priester aus Italien bei ihm zu Gast. Gerade im Raum Odessa, Nikolajew und Cherson leistet die katholische Kirche viel humanitäre Hilfe.
Wer von Odessa kommt, hat kaum Zerstörung in der Stadt gesehen. Auch Nikolajew, das auf dem Weg nach Kiseliwka und Partisanke liegt, ist weitgehend unzerstört. Doch während man sich den beiden Dörfern nähert, sieht man zunehmend die Folgen des Krieges. „Sehen Sie sich mal die schönen Felder an“, sagt Sneschana Eremenko. „Da fuhren noch vor zwei Jahren Traktoren die Ernte ein.“ Heute fahren keine Traktoren mehr, weil die Russen sie mitgenommen haben. Aber auch sonst, so Eremenko, sei es nicht möglich, auf den Feldern zu arbeiten. „Die sind vermint.“ Und viele Bauern seien inzwischen im Krieg. Derweil sieht man immer mehr zerstörte Häuser am Straßenrand.
Geduldig warten bei null Grad ein Dutzend Menschen vor dem Container auf dem Gelände der katholischen Kirche im Dorf Kiseliwka auf das weiße Auto. Von der Kirche ist seit dem 25. Dezember 2022 nicht mehr viel zu sehen. Ausgerechnet am Weihnachtstag schlug hier die russische Artillerie ein. Nur eine Wand ist geblieben, dahinter ein Haufen Steine. Die drei Helfer aus Odessa bringen mehrere Kisten mit Medikamenten in den Container.
Die Äcker sind vermint
Während sie sich an die Arbeit machen, Medikamente, Geräte und weiße Kittel auspacken, der Priester die Heizung anwirft, stehen die Dorfbewohner in dicken Mänteln weiter Schlange. „Mein Haus steht noch“, sagt eine Frau names Ljuba. „Aber ich habe keine Nachbarn mehr. Fast alle Häuser sind im März '22 abgebrannt, als die Russen kamen. Und nun habe ich nichts mehr, keinen Ehemann, keine Arbeit und fast kein Geld.“ Gerade einmal 50 Euro erhalte sie aus Hilfen der UN und das auch nicht jeden Monat.
„Hier gibt es nichts mehr. Auf dem Feld kann man nicht mehr arbeiten, obwohl es so ein schwarzer, fruchtbarer Boden ist. Aber ohne Traktoren, überall Minen und viele Männer an der Front?“, schimpft sie. Kurz bevor die russischen Truppen in das Dorf einmarschierten, seien sie alle nach Odessa geflohen. „Wissen Sie, was mich auch an unseren Leuten ärgert: Die haben kein Verständnis für unsere Lage. Das Versorgungsamt wollte von uns für die ersten drei Monate nach unserer Flucht aus dem Dorf die kommunalen Gebühren haben.“ Sie hätten sich nicht abgemeldet, hieß es zur Begründung. „Aber wenn dein Dorf brennt, denkst du daran nicht mehr“, sagt Ljuba.
Inzwischen sind Sneschana und Kristina fertig mit den Vorbereitungen. Der Raum ist warm, Spritzen, Blutdruckmessgerät und Medikamente sind an ihrem Platz. Je zwei Patientinnen werden hereingebeten. Alle erzählen erstmal von ihrer Situation, bevor sie ihre körperlichen Beschwerden schildern, ihr Blutdruck gemessen, Blut abgenommen wird.
Stress und seelische Belastungen
„Frau Doktor“, sagt eine Frau, „es ist der Stress, es ist die Angst, die meinem Herzen zusetzt. Ich glaube, ich werde verrückt.“ Unterdessen redet Ärztin Kristina Sirotenko auf einen übergewichtigen Mann ein. „Ich habe Ihnen schon beim letzten Mal gesagt, dass Sie mit dem Rauchen aufhören sollten“, ermahnt sie ihn. Er sagt, es sei der Stress. „Ich kann das Rauchen einfach nicht lassen.“
Sneschana Eremenko war vor der russischen Invasion stellvertretende Chefärztin der Kinderabteilung einer Klinik in Odessa. Nach der russischen Invasion floh sie zunächst in die Slowakei. Doch bald merkte sie, dass dies nicht ihr Weg sein könne. Deshalb kehrte sie nach Odessa zurück. In Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche und slowakischen Partnern brachte sie die mobile Ambulanz nach Kiseliwka. Früher habe sie sieben Stunden am Tag gearbeitet und zwei Stunden ehrenamtliche Arbeit geleistet, jetzt sei es umgekehrt. Drei Stunden dauert die Ambulanz an diesem Tag. Sneschana hört viele Klagen über kriegsbedingte seelische Belastungen, Kummer, Angst, erhöhte Cholesterin-Spiegel, Diabetes und Herzbeschwerden.
Dann fahren die drei weiter in die Ortschaft Partisanske. Auch dort wartet vor der Verwaltung des Dorfes eine Menschenmenge auf die beiden Frauen. Dorfvorsteherin Raisa Schulga stellt den beiden Ärztinnen immer einen Raum in ihrem kleinen Verwaltungsgebäude zur Verfügung. Auch hier plagen die Menschen die gleichen Beschwerden wie in Kiseliwka. Auch hier begegnen die Ärztinnen den Menschen mit Geduld und Mitgefühl.
Während die Medizinerinnen die Frauen und Männer aus dem Dorf empfangen, kümmert sich Dorfvorsteherin Schulga um einen reibungslosen Ablauf. Sie lässt den Holzofen im Warteraum heizen, organisiert den drei Helfern ein heißes Mittagessen, stellt Tee und Gebäck auf den Tisch. Die 64-jährige Landwirtin, die vor 40 Jahren von Belarus in die Ukraine zog, ist zwar nicht gewählt, genießt aber gleichwohl das Vertrauen ihrer Mitbürger.
Auf sich gestellt
Seit drei Jahren sei sie Dorfvorsteherin, berichtet sie, und zuständig für Blagodatne und Partisanske. In Blagodatne leben 18 Menschen. In dem größeren Dorf Partisanske sind es aktuell 198, darunter 35 Kinder. Vor dem Krieg waren es fast 1.000 Einwohner in beiden Dörfern. Beide sind weitgehend zerstört. Wenn sie aus dem Fenster blickt, sieht sie Zelte, in denen viele vorübergehend wohnen, erzählt Schulga. „Neun Monate lang ist hier niemand gewesen. Wir sind alle geflohen, nach Odessa oder Nikolajew. Unsere Dörfer lagen ja direkt an der Front.“
Vor dem 24. Februar 2022 habe sie eigentlich nicht schlecht gelebt. Schulga berichtet von ihren Hühnern, Kühen und dem angebauten Gemüse. „In den ersten Monaten des Krieges sind viele Menschen aus Nikolajew zu uns gekommen, weil sie dachten, im Dorf sei es sicherer. Flugzeuge haben sie angegriffen. Am 23. März 2022 wurde dann unser Dorf beschossen.“ Deshalb seien viele Flüchtlinge weitergezogen. Unvergesslich seien ihr die vielen Tiere, Haustiere, Schweine, Kühe und Hühner, die die Bewohner freigelassen hatten. Die seien im ganzen Dorf herumgelaufen – bevor sie verendeten, weil sie keine Nahrung finden konnten.
In ihren Entscheidungen ist sie weitgehend auf sich allein gestellt. „Damals, als die Front zu uns kam, habe ich allen gesagt, wir gehen jetzt nach Nikolajew.“ So habe sie 410 Menschen evakuiert. Nun organisiere sie die Ambulanz der Ärztinnen, kümmere sich um Baumaterial, Matratzen, Geschirr, verteile die humanitäre Hilfe. Jeden Freitag kommen Fachleute und reinigen das Wasser. Und ja, sie würde sich sehr freuen, wenn sie auch aus dem Ausland Unterstützung erhielte für Baumaterial und Zement.
Um 16 Uhr geht es für die drei zurück nach Odessa. „Wüssten die in Odessa nur, wie es in den Dörfern aussieht“, sagt Kristina Sirotenko. In der Stadt funktioniere das Leben ja noch. Dann fahren sie weiter zur Post. Die Blutproben müssen ins Labor.