„Wir dürfen nicht aufgeben“
Sao Paulo ‐ Brasilien gedenkt seiner größten Umweltkatastrophe. Doch die Justiz kommt kaum voran, genauso wie Maßnahmen, um künftige Tragödien wie jene vor fünf Jahren zu vermeiden.
Aktualisiert: 24.01.2024
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Am Nachmittag des 25. Januar 2019 brach das Abraumbecken der Eisenerzmine „Corrego do Feijao“ im brasilianischen Gliedstaat Minas Gerais. Rund 13 Millionen Kubikmeter Schlamm mit toxischen Schwermetallrückständen ergossen sich rasend schnell durch ein an die Kleinstadt Brumadinho angrenzendes Tal und begruben Einwohner, Touristen und Mitarbeiter des Bergbauunternehmens Vale unter meterdicken Schlammschichten.
272 Menschen starben bei Brasiliens größter Umweltkatastrophe, darunter zwei noch ungeborene Kinder. Eines davon war das Enkelkind von Vagner Diniz. Er hat in Brumadinho zwei Kinder und seine im fünften Monat schwangere Schwiegertochter verloren. „Wir Angehörigen müssen dafür sorgen, dass die Geschichte der Tragödie und damit die Geschichte der Opfer nicht in Vergessenheit gerät“, sagt Diniz nun im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
Jeden Monat halte man in Brumadinho eine Mahnwache ab. „Jeder 25. ist für uns ein Gedenktag. Denn wir dürfen nicht aufgeben“, so Diniz. An diesem fünften Jahrestag sind mehrere Gedenkveranstaltungen geplant, darunter auch im Zentrum der Metropole Sao Paulo. Man werde auch der drei noch nicht gefundenen Opfer gedenken. Dass die Behörden immer noch nach ihnen suchen, sei wichtig. „Denn sonst können die Familien diesen Zyklus niemals abschließen.“
Bis heute leidet die Region Brumadinho an der Tragödie. Bei Starkregen wird Schlamm in die Häuser geschwemmt. Eine Studie hat zudem bei mehr als einem Drittel der Untersuchten erhöhte Werte von Arsen und Mangan nachgewiesen. Bis heute ist die Landwirtschaft massiv beeinträchtigt. „Es ist kein Wunder, dass zuletzt die Zahl der Suizide in der Region zugenommen hat“, so Diniz.
Im Januar 2020 hatte die Justiz Anklage gegen 16 natürliche und 2 juristische Personen wegen 272-fachen Mordes, Verbrechens gegen die Tierwelt und Umwelt erhoben; darunter Manager der Vale sowie Mitarbeiter des TÜV Süd, der das Abraumbecken kurz vor der Tragödie als sicher zertifizierte. Doch die Verfahren kommen nicht voran.
„Die Justiz hat sich bislang in juristischem Klein-Klein und Ego-Kämpfen verheddert“, kommentiert Diniz. Die juristischen Pirouetten hätten dazu geführt, dass die Bundesjustiz die Fälle mittlerweile der Teilstaatsjustiz entzogen habe.
Diniz weiter: „Die Justiz hat kein wirkliches Interesse an derartigen Fällen. Und sie lässt so zu, dass wir jeden Tag aufs Neue verletzt werden.“ Er erinnert an die Tragödie im nahen Mariana, wo 2015 ebenfalls ein Abraumbecken brach und 19 Menschen tötete. Und an den Brand 2013 in der Diskothek Kiss in Südbrasilien, wo 242 Personen starben. Auch hier komme die Justiz nicht voran. „Und so gehen die Tragödien in Brasilien immer weiter. Wer genug Geld hat, entkommt der Justiz.“
Auch beim Schadenersatz läuft es zäh. Zwar hatte sich Vale mit der Regierung von Minas Gerais 2021 auf die Zahlung von umgerechnet rund sechs Milliarden Euro geeinigt. Diese fließen aber hauptsächlich in Infrastrukturprojekte. Der Konzern habe es derweil geschafft, viele Entschädigungsprozesse zu verschleppen, sagt Sergio Caldeira do Amaral von der Opfervereinigung Avabrum der KNA. Er selbst verlor bei der Tragödie seinen Bruder.
„Alles, was die Vale angeht, ist schwierig“, sagt Amaral. Besonders die Opfer, die sich den Kollektivklagen nicht angeschlossen haben, kämen vor Gericht nur langsam voran. „Wir sind empört. Es wurde belegt, dass das Vale-Management von den Risiken des Abraumbeckens wusste und dass es Warnungen gab. Aber der Gewinn, den man aus dem Weiterbetrieb ziehen konnte, war ihnen wichtiger.“
Im Oktober 2019 hatten Hinterbliebene gemeinsam mit dem katholischen Hilfswerk Misereor und dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) auch in München Anzeige gegen TÜV Süd erstattet. Doch das Landgericht München I lässt weiter auf eine Entscheidung warten. So forderte man nun die Bundesregierung auf, sich für eine juristische Aufarbeitung und vollständige Wiedergutmachung einzusetzen.
Die Sehnsucht nach den Verstorbenen sei immens, sagt Vagner Diniz. Er setzt sich für den Bau einer Gedenkstätte ein. Man wolle damit auch erreichen, dass sich solche Unglücke nicht wiederholen. Skeptisch zeigt sich Diniz allerdings, was die Versprechen von Unternehmen und der öffentlichen Hand angeht, künftigen Tragödien vorzubauen.
Ein jüngst veröffentlichter Bericht der Regierung ergab, dass es in Brasilien drei Dämme mit der höchsten Risikostufe 3 gebe, dazu Dutzende weitere Dämme mit erhöhtem Risiko. „Bereits bei Stufe 2 müsste eigentlich die Bevölkerung evakuiert werden - was nicht geschieht“, so Diniz. „Es wird nicht das Nötige getan, um die Bevölkerung zu schützen. Wo ist da unsere Regierung?“