Sonnenaufgang in einer Ecke des Migrantenlagers in Necoclí.
Reportage von der Grenze zwischen Kolumbien und Panama

Necoclí: Das Tor zur Route des Todes

Necoclí/Essen ‐ Für viele Flüchtende endet ihr Weg an Kolumbiens Karibikküste. Migration wird hier zum Menschenhandel. Mit dem Bau eines Migrantenheims und der Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten bietet die Kirche vor Ort den Menschen Schutz.

Erstellt: 21.12.2023
Aktualisiert: 21.12.2023
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Jeden Morgen, wenn die Schnellboote ablegen, schauen Jhoan und Jhosmer ihnen sehnsüchtig nach. Und mit jedem Tag steigt die Wut. Die beiden Venezolaner stehen an der Mole des Städtchens Necoclí an der kolumbianischen Karibikküste. „Es ist kaum zu ertragen“, sagt Jhoan Barrios „Das hier ist die Hölle.“ Und aus der gibt es vorerst kein Entrinnen. Denn man kann von Necoclí nicht mehr eigenständig weiterziehen. Seit Jahresbeginn kontrolliert die Mafia die Flüchtlingsroute durch den Darién und verlangt dafür eine Art Eintrittsgeld. Geld, das die beiden nicht mehr haben; wie viele andere Flüchtende.

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Der „Tapón del Darién“ ist die einzige Unterbrechung der Panamericana-Fernstraße, die ansonsten den gesamten Kontinent von Alaska bis Argentinien durchmisst. Die Ingenieure scheuten in den 1930-er und 1940-er Jahren den Bau der Straße durch die Sümpfe, Flüsse, Erhebungen und Schluchten des 90 Kilometer langen Urwaldstücks. Heute quälen sich Menschen zu Fuß durch diesen gnadenlosen „Urwald-Pfropf“ auf der Suche nach einem Leben im Norden ohne Verfolgung, Gewalt und Hunger . Dafür nehmen sie im Darién giftige Schlangen, Abgründe, Moskitoschwärme, Raubtiere und die organisierte Kriminalität in Kauf.

Menschen sitzen vor Flüchtlingsboot in Necoclí (Kolumbien)
Bild: © Hans-Maximo Musielik

Alles bereit, um gegebenenfalls in die Schnellboote einsteigen zu können. Viele kommen ohne Geld nach Necoclí an und müssen zunächst die Kosten der Überquerung erarbeiten.

Der 33-jährige Jhoan und der 26-jährige Jhosmer sind mit ihren Partnerinnen seit knapp sechs Wochen in Necoclí. Eigentlich sollte es nur ein kurzer Zwischenstopp werden. In das 35.000-Einwohner-Städtchen am Golf von Urabá strömen jeden Tag zwischen 500 und 1.000 Geflüchtete. Jhoan und Jhosmer stammen aus dem venezolanischen Barinas. Jhosmer war Profifußballer in unteren Ligen, Jhoan Manager in einer Kleiderfabrik. Weil der politische Druck stieg und jede Zukunftsperspektive in Venezuela fehlt, haben sie sich auf den Weg gemacht: erst mit dem Bus und, als das Geld aufgebraucht war, zu Fuß. Unterwegs haben sie sich getroffen und zusammengetan, damit der Weg sicherer ist.

Für eine Unterkunft reicht das Geld längst nicht mehr. Sie schlafen auf einer Strohmatte am Strand. Wie sie das Geld für die Überfahrt und den Marsch durch den Darién zusammenbekommen sollen, wissen sie nicht. Gemeinsam mit der Kirche vor Ort baut das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat eine Flüchtlingsunterkunft und finanziert die Versorgung der Migrantinnen und Migranten mit Lebensmitteln, Medikamenten und Hygieneartikeln.

Eine Gruppe von Migranten laufen vollgepackt zum Steg von Necoclí. Adveniat-Weihnachtsreportage 2023

Mafias kontrollieren die Fluchtroute

Inzwischen müssen die Migranten nicht nur die Schiffspassage über den Golf von Urabá finanzieren. Jetzt müsse man auch das „Geld für die Mafias“ haben, erzählt Jhosmer. „Das sind diejenigen, die hier am Strand mit den Mopeds immer auf und ab fahren, die man an den goldenen Ringen und Halsketten erkennt.“ Kriminelle Gruppen, allen voran der „Clan del Golfo“, haben die Not der Flüchtlinge zu einem Geschäftsmodell gemacht. Deshalb ist in Necoclí alles teuer. Selbst für das Laden des Handys am Kiosk nehmen die Besitzer den Migranten fast einen Dollar ab. „Wir können auch nicht zurück. Wir haben daheim alles verkauft“, sagt Jhoan, der trotz aller Rückschläge entschlossen wirkt. Wird Necoclí für sie zur Endstation?

„Migration ist Menschenhandel, ein Geschäft, bei dem jeder mitverdienen will, sogar die Behörden vor Ort,“ kritisiert Hugo Alberto Torres Marín, bis zu seiner Ernennung zum Erzbischof von Santa Fé de Antioquia Bischof von Apartadó. „Im Zentrum stehen nicht der Mensch und seine Not, sondern nur das Geschäft.“ Tatsächlich hat sich die Migration in Necoclí zu einer Art „All-inclusive-Geschäft“ entwickelt, das entsprechend kostet. Man zahlt die Überfahrt, die Übernachtung in den Herbergen, den Führer durch den Darién und angeblich erwirbt man so automatisch auch die Sicherheit, dass man im Dschungel nicht überfallen wird.

María Lourdes Álvarez Posada (rechts), Psychologin und Koordinatorin im Bistum von Apartadó, Spricht mit einer Schwester über Migranten die in Necoclí gestorben sind.

Route des Todes

 Knapp 250.000 Menschen haben 2022 den gefährlichen Weg gewagt, doppelt so viele wie im Jahr zuvor. 2021 wurden im Darién nach offiziellen Angaben rund 50 Leichen gefunden. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) geht vom Vierfachen aus. Wie viele tote Menschen niemals gefunden werden, bleibt das Geheimnis des unerbittlichen Dschungels. Erzbischof Torres Marín nennt den Darién schlicht „Route des Todes“.

Die Mehrzahl der Flüchtlinge kam 2022 aus Venezuela, gefolgt von Menschen aus Ecuador und Haiti. „Immer mehr Menschen kommen aus fernen Gegenden wie China, Angola, Kamerun und Afghanistan“, berichtet Diego Chávez vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. „Viele kennen nichts von Südamerika, aber sie wissen, wo Necoclí liegt." Der Erstkontakt zu den Migranten finde immer öfter schon in den Heimatländern statt. Das spreche für sehr große und gut organisierte Schleppernetze.

María Lourdes Álvarez Posada, Psychologin und Koordinatorin im Bistum von Apartadó erklärt die verschiedenen Routen die Migranten weltweit benutzen um in Necoclí anzukommen. Adveniat-Aktionsreportage 2023
Bild: ©

In Necoclí spiegeln sich die globalen Krisen wider

Doch die große Mehrheit der Migranten kommt seit Anfang 2023 aus Ecuador. Die Menschen dort fliehen vor der überbordenden Gewalt aufgrund von Revierkämpfen der Drogenkartelle. Nach Angaben der ecuadorianischen Sicherheitsbehörden war das vergangene mit 4.450 Morden das gewalttätigste Jahr in der Geschichte des Landes.

Eine Großfamilie hat deshalb die ecuadorianischen Hauptstadt Quito verlassen. Sie stehen in Necoclí verloren an der Strandpromenade. „Können Sie uns sagen, wann wir fahren?", fragt einer der beiden Männer, der seinen Namen nicht nennen will. Mit ihren Frauen und den vier Kinder sind sie am Morgen zum Strand bestellt worden. Von wem, wollen auch sie  nicht sagen.

Schnellboote bringen Migranten von Necoclí über den Golf von Urubá nach Acandí, von wo aus sie einen anstrengenden 6-7-tägigen Marsch durch einen gnadenlosen Dschungel nach Panama beginnen werden

Zwischenstation Necoclí

Längst nicht alle, die heute hier auf gepackten Koffern sitzen, werden dem Flaschenhals Necoclí entkommen. Die besten Chancen haben diejenigen mit einem blauen Armbändchen. Nur wer dieses Erkennungszeichen der Mafia trägt, hat bezahlt und darf eines der Boote besteigen. Aber kaum jemand scheint zu wissen, wann und ob er an der Reihe ist. Immer wieder werden durch ein Megafon unverständliche Nummern aufgerufen. Ab und zu springen Gruppen auf und hetzen zu den Bootsanlegern.

Auch Jhoan und Jhosmer stehen noch viele Tage hier und beißen sich vor Frust auf die Lippen. Letztlich ist Necoclí doch nicht Endstation für die beiden. Einen Monat später melden sie sich per Mobiltelefon aus Costa Rica. Durch den Verkauf von Plastiktüten und anderer Tagelöhner-Arbeit haben sie die 280 Dollar pro Person verdient, die die Mafia verlangte. „Wir sind durch den Darién gehetzt und haben Unaussprechliches gesehen“, schreibt Jhoan. 19 Tote habe er gezählt. Die panamaischen Soldaten seien das Schlimmste. „Sie vergewaltigen und  töten Frauen und bestehlen jeden.“

Costa Ricas Hauptstadt San José ist notgedrungen ihr neuer Rastplatz. „Hier schlafen wir, wo auch immer die Nacht uns hinführt. Wir haben kein Geld, um weiterzuziehen“, schreibt Jhoan. „Jetzt müssen wir erstmal arbeiten gehen. Dann sehen wir weiter.“

Von Klaus Ehringfeld. Fotos: Hans-Maximo Musielik

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