Gradito Alloggia im "Filetto-Weg" in Pöcking. Gedenktafel an die 17 Ermordeten des Filetto-NS-Massakers (1944), verantwortet von Matthias Defregger, späterer Münchner Weihbischof.
Wehrmachts-Opfer zu Besuch in Bayern

Wie ein Italiener einem deutschen Kirchenmann den Mord an seinem Vater vergab

Gradito Alloggia verdankt seinen Vornamen einem Verbrechen, das Deutsche in seinem Dorf begangen haben. Am Sonntagabend, nach 79 Jahren, sprach der Italiener erstmals in Deutschland darüber – bei Kardinal Marx in München.

Erstellt: 11.07.2023
Aktualisiert: 10.07.2023
Lesedauer: 
Von Christoph Renzikowski (KNA)

Gradito Alloggia hatte gerade lesen gelernt, da fand er seinen Namen schon auf dem Friedhof wieder – und auf einem Denkmal. Seine Mutter war mit ihm schwanger gewesen, als das Grauen über Filetto di Camarda hereinbrach. Am 7. Juni 1944 erschoss die Wehrmacht willkürlich 17 Männer in dem Abruzzendorf und nahm damit Rache für einen Partisanenüberfall auf einen deutschen Posten im Ort. Alloggias Vater war unter den Ermordeten. Als dessen Frau zwei Monate später ihr viertes Kind gebar, sollte in ihm wenigstens der Name ihres Mannes weiterleben. So beschloss es die Witwe in ihrer Trauer.

Die Familien der Waisen seien im Dorf damals mit ihrem Schmerz allein geblieben, sagt der 78-Jährige. Man habe nicht über das Massaker geredet, wohl auch, um die Kinder zu schützen und um ihnen nicht erneut wehzutun. Jahrelang gab es keinerlei Erinnern und Gedenken.

Alloggia sitzt am Sonntagabend dem Münchner Kardinal Reinhard Marx gegenüber, als er seine Geschichte erzählt. Seit Freitag ist der Mann zu Besuch in Bayern, zusammen mit 16 anderen aus seinem Dorf. Der Empfang im Erzbischöflichen Palais ist der Höhepunkt ihrer Reise.

Alloggia sagt, seine Mama habe nach und nach erzählt, dass sein Vater tot sei, weil ihn Deutsche umgebracht hätten. Als Kind habe er das aber nicht verstanden. Später habe er hier und da etwas aufgeschnappt und sich so die Geschichte zusammengereimt.

Der „Fall Defregger“

1969 kamen Reporter des „Spiegel“ nach Filetto. Durch sie erhielt das Grauen einen Namen: Matthias Defregger war damals als höchster Offizier im Rang eines Hauptmanns mit der Ausführung der Vergeltungsaktion beauftragt. Von den deutschen Journalisten erfuhren sie zudem, dass Defregger nach dem Krieg in der katholischen Kirche Karriere gemacht und in München Weihbischof geworden war.

Der „Fall Defregger“ sorgte für einen internationalen Skandal. Die Justiz in Deutschland und auch in Italien ermittelte, ohne dass es zu einer Anklage kam. Defregger behauptete zeitlebens, er habe sich weder moralisch noch juristisch etwas vorzuwerfen. Aber das Ereignis laste schwer auf ihm. Nach Italien fuhr der 1995 gestorbene Kleriker nie wieder. Eine Begegnung mit den Hinterbliebenen der Erschossenen vermied er. Der Weihbischof berief sich auf Befehlsnotstand. Historiker ordnen ihn heute zumindest als Mittäter ein.

Alloggia erzählt, natürlich habe er die Deutschen und Defregger dafür gehasst, was sie ihnen in Filetto angetan hätten. Aber schon im Alter von fünf bis sechs Jahren habe er bei einem Besuch der Großmutter im Nachbardorf beschlossen, dieses Gefühl loszulassen und in Mitleid zu verwandeln. Wie ihm das gelang, führt er nicht weiter aus. Marx fixiert ihn und hört weiter gespannt zu. Dann ist der Kardinal an der Reihe.

17 Menschen wurden getötet

„Verdrängen führt nie zu einer guten Zukunft“, sagt Marx zunächst ganz allgemein. Dann kommt er auf seinen Vater zu sprechen. Der sei auch Soldat gewesen und habe sich nach zwölf Jahren russischer Gefangenschaft schwer getan, seine Erfahrungen in Worte zu fassen, noch mehr, zu akzeptieren, dass er einem verbrecherischen Regime gedient hatte. „Das haben viele Soldaten bis heute nicht verarbeitet.“

Dann setzt der Erzbischof zu einer Bitte um Verzeihung an: Er bedaure außerordentlich, dass Defregger nach dem Krieg nicht den Mut gefunden habe, zu seiner Schuld zu stehen. Da applaudieren seine italienischen Zuhörer.

Nach der Begegnung sagt Alloggia, die Worte des Kardinals hätten ihnen gut getan. Er persönlich habe Defregger vergeben. Er könne sich nicht vorstellen, dass dieser später keinerlei Reue empfunden habe. „Man kann nicht einen Befehl geben, 17 Leute zu erschießen, und das geht spurlos an einem vorbei.“

Die langjährige Haushälterin Defreggers, eine 93-jährige Dame, will sich erinnern, dass sie mit dem Weihbischof einmal anonym in Filetto gewesen sei und dieser dort in der Kirche gebetet habe. Doch das steht im Widerspruch zu Aussagen seines langjährigen Sekretärs, der dem Kirchenmann auch als Fahrer diente.

Defregger-Weg umbenannt

In Pöcking am Starnberger See, wo Defregger seit 1968 wohnte, haben sie im Mai eine Straße umbenannt. Sie heißt jetzt nicht mehr Weihbischof-Defregger-Weg, sondern Filetto-Weg. Eine Informationstafel erläutert die Hintergründe und listet die Namen der 17 Ermordeten auf. Darunter ist auch ein Gradito Alloggia.

Sein Sohn lässt sich für ein Erinnerungsfoto vor den Schildern ablichten. Im vergangenen Jahr hat eine Delegation des Pöckinger Gemeinderats erstmals an der Gedenkfeier für die Opfer des Massakers in Filetto teilgenommen und so öffentlich Mitgefühl bekundet. Dass sie 2024, zum 80. Jahrestag, wieder hinfahren werden, ist schon ausgemacht.

Alloggia sagt, in seinem Dorf seien zunächst nicht alle begeistert gewesen von diesem Kontakt. „Manche hielten alle Deutschen für schlechte Menschen, die andere einfach umbringen.“ Inzwischen sei das Eis geschmolzen. „Ich würde sagen, wir sind Freunde geworden.“

KNA

Mehr zum Thema