Erstmals überschreitet eine Kulturhauptstadt Europas eine Grenze
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Zwei Nationen – ein Titel

Erstmals überschreitet eine Kulturhauptstadt Europas eine Grenze

Nova Gorica/Gorizia  ‐ Hier verschwimmen Italien und Slowenien ineinander. Nova Gorica und Gorizia sind gemeinsam Kulturhauptstadt Europas – und zeigen, dass Grenzen oftmals Kopfsache sind. Die Erfahrung könnte die Region nachhaltig verändern.

Erstellt: 10.03.2025
Aktualisiert: 12.03.2025
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Von Markus Schönherr (KNA)

Abendstimmung in Nova Gorica: Leute führen ihre Hunde spazieren, Radfahrer strampeln entlang der Bahngleise. Völlig beiläufig überqueren sie dabei die Landesgrenze von Slowenien nach Italien. Auch die umstehenden Carabinieri, rauchend, plaudernd, scheinen nichts mit der Grenze anfangen zu können. Spätestens seit Sloweniens EU-Beitritt im Jahr 2004 gehören Kontrollen zwischen Nova Gorica und dem italienischen Gorizia der Geschichte an. Aktuell ist die Doppelstadt die erste grenzüberschreitende Kulturhauptstadt Europas.

Symbol für die gemeinsame Geschichte ist der 1906 eingeweihte Bahnhof mit dem vorgelagerten Europaplatz, in Italien Transalpina-Platz genannt: Auf ihm können Besucher mit einem Fuß in Slowenien, mit einem in Italien stehen. Bedeutung gewann der habsburgische Bezirk Görz als Reiseziel für den österreichischen Adel. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Stadt italienisch; nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte die Teilung. Während das historische Görz Italien zugesprochen wurde, bekam das damalige Jugoslawien nur eine Handvoll Ländereien: einen Friedhof, ein Kloster, Bauernhöfe und den Bahnhof.

Um den zerstreuten Gliedmaßen einen Rumpf zurückzugeben, ließ die Regierung um Autokrat Josip Broz Tito die Verwaltungsstadt Nova Gorica bauen. „Es ist eine Stadt, am Reißbrett geplant und auf die grüne Wiese gestellt“, erzählt Christine Casapicola. Die Wiener Autorin hat seit vielen Jahren einen Zweitwohnsitz bei Gorizia. Während die jugoslawisch-italienische Grenze den Übergang zwischen Kapitalismus und Sozialismus markierte, sei die Grenze „gegen Ende des 20. Jahrhunderts schon relativ locker“ gewesen, erinnert sich Casapicola. Bewohner gelangten mit einem speziellen Ausweis in die Nachbarstadt. Und auch Familien verteilen sich auf beide Seiten der Grenze.

Grenzenloses Familiendrama – das ist der Stoff für ein Theaterstück, das Goran Vojnovic, einer der renommiertesten Autoren Sloweniens, für das Kulturhauptstadt-Programm schrieb. „Während des Faschismus wurden viele Slowenen zwangsitalienisiert. Es gibt daher viele Geschichten von Menschen, die jahrzehntelang als Italiener lebten, bis ihre unterdrückte slowenische Identität durch einen Schlaganfall oder Demenz wieder hervorbrach und sie in einer Sprache redeten, die niemand in ihrer Familie verstand.“

Sprachgrenze

Was die heutige Sprachsituation angeht, attestiert Vojnovic einer Seite Aufholbedarf: „Die meisten Slowenen, die an der Grenze leben, sprechen Italienisch, aber die Italiener sprechen gar kein Slowenisch.“ Überhaupt sei bis dato zu wenig unternommen worden, um „Europas Realität“ von getrennten Nationen aufzurütteln. Daher sei der gemeinsame Kulturhauptstadttitel eine „Belohnung für all jene auf beiden Seiten der Grenze, die sich seit vielen Jahren darum bemühen, eine grenzenlose Welt zu schaffen und zwei Städte und ihre Menschen einander näher zu bringen“, so Vojnovic.

In Schaufenstern und auf Straßenbannern prangt das diesjährige Motto der Kulturhauptstädte: „Go borderless“. Doch scheinen Gorizia und Nova Gorica noch im Dornröschenschlaf zu liegen.

Das werde sich spätestens im Mai ändern, wenn die Städte richtig „aufblühen“, versichert Stojan Pelko. Er ist slowenischer Direktor des Kulturhauptstadtprogramms „Go!2025“. Den Grund dafür, dass sich Nova Gorica gegen andere slowenische Städte wie Piran oder Ljubljana durchsetzen konnte, sieht der Kulturmanager in dem „progressiven“ Wesen der Stadt: „Nova Gorica ist eine sehr junge Stadt. Verglichen mit anderen europäischen Städten ist sie nicht einmal ein Teenager, eher ein Kind.“ Dementsprechend stehe nicht die Vergangenheit im Fokus der Veranstaltungen, sondern die Zukunft.

Weiter berichtet Pelko von einer Besonderheit im diesjährigen Programm: Nova Gorica sei eine „mobile Kulturhauptstadt“. So erzählten etwa gleich vier Schauplätze in Italien und Slowenien aus dem Leben des slowenischen Malers Zoran Music. Ein weiterer Kultur-Pilgerweg führe aus der italienischen Stadt Aquileia bis zum slowenischen Kirchberg Sveta Gora (Heiliger Berg). „Wir wollen, dass sich die Menschen auf Wanderschaft begeben.“

Wer hofft, in Gorizia und Nova Gorica der politischen Realität für ein paar Tage zu entfliehen, könnte derweil enttäuscht werden. Denn vor Problemen wolle man nicht die Augen verschließen, betont Pelko. Umweltzerstörung und Migration spielten daher ebenso eine Rolle im Kulturprogramm wie die Konflikte in der Ukraine und Nahost. Zugleich sende der Kulturhauptstadttitel laut Pelko eine Botschaft: „Während an anderen Grenzen in Europa Krieg tobt, arbeiten hier zwei Städte in zwei verschiedenen Ländern Hand in Hand zusammen.“

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