Wie die Digitalisierung die Entwicklungszusammenarbeit verändert

Wie die Digitalisierung die Entwicklungszusammenarbeit verändert

Hilfswerke ‐ Drohnen, die Katastrophengebiete erfassen, Apps, mit denen man das Wachstum von Bäumen überwacht oder die Blockchain-Technologie, die mehr Datensicherheit verspricht. Die neuen Technologien bringen in vielen Bereichen Erleichterungen. Doch es treten auch neue Probleme auf.

Erstellt: 30.08.2019
Aktualisiert: 30.08.2019
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Drohnen, die Katastrophengebiete erfassen, Apps, mit denen man das Wachstum von Bäumen überwacht oder die Blockchain-Technologie, die mehr Datensicherheit verspricht. Die neuen Technologien bringen in vielen Bereichen Erleichterungen für die Zusammenarbeit von Helfern und ihren Partnern vor Ort. Doch es treten auch neue Probleme auf.

Der Verband Entwicklungspolitik und humanitäre Hilfe (VENRO e.V.) hat jüngst den Bericht „Tech for Good: Möglichkeiten und Grenzen digitaler Instrumente in der Entwicklungszusammenarbeit von Nichtregierungsorganisationen“ veröffentlicht. Fazit: „Alle Mitgliedsorganisationen unseres Dachverbands setzen sich damit auseinander, was die Digitalisierung für sie bedeutet und wie sie sie für ihre Arbeit besser nutzen können“, fasst VENRO-Geschäftsführerin Heike Spielmans zusammen.

Die Definition von digitalen Instrumenten wird in dem VENRO-Bericht weit gefasst. Die Bandbreite reicht von normalen Mobiltelefonen, die in afrikanischen Ländern wie Kenia millionenfach für Geldüberweisungen genutzt werden, bis hin zur virtuellen bzw. erweiterten Realität. Die Welthungerhilfe etwa testet dieses Mittel für das Aufspüren von Unterernährung bei Kindern in Indien: Über eine Smartphone-App werden Gewicht und Größe der Kinder gescannt und dann automatisch berechnet, ob eine Unterernährung vorliegt.

In Ebola-Gesundheitsstationen können Mediziner mithilfe der Eingabe ihrer Diagnosedaten auf Tablet-Geräten Zeit gewinnen, wo sie zuvor etwa vom Krankenbett ans Fenster gehen mussten, um ihre Ergebnisse den Kollegen draußen zuzurufen.

Ein weiteres Beispiel ist das Programm „One Million Trees“ der deutschen Wiederaufforstungs-Organisation Fairventures Worldwide. Kleinbauern auf der indonesischen Insel Borneo können mithilfe einer App Daten wie Baumhöhe und Durchmesser in eine zentrale Onlinedatenbank laden. Damit wird das Holzvolumen automatisch berechnet. Die Koppelung mit aktuellen Marktpreisen ermöglicht den Kleinbauern eine bessere Verhandlungsbasis und damit einen fairen Marktzugang. „So müssen sich die Bauern nicht mehr von Händlern übers Ohr hauen lassen“, bringt Spielmans die Vorteile des Programms auf den Punkt.

Auch die Blockchain-Technologie ist in aller Munde. Digitale Datenblöcke etwa zu Finanztransaktionen werden nicht mehr zentral auf einem Server gespeichert, sondern auf vielen dezentral vernetzten Rechnern. Dadurch können Daten immer verifiziert und Manipulationen vorgebeugt werden. Transaktionsgebühren für externe Finanzdienstleister fallen so praktisch weg, was Migranten ihre Heimatüberweisungen vergünstigen und auch Bargeldtransfers in Flüchtlingslager erleichtern kann.

Die Website Refugee.info wiederum klärt Flüchtlinge bereits auf ihrer Route durch Italien, Griechenland, Serbien oder Bulgarien über ihre Rechte auf, sodass Schlepper sie nicht so einfach hinters Licht führen können.

„Der wichtigste Vorteil der Digitalisierung ist der dezentrale, unmittelbare Zugang zu Wissen“, so Heike Spielmans. „Das betrifft einmal die Vernetzung insgesamt und die Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen, den Austausch von Daten, aber es betrifft auch die Zielgruppen selber. Sie haben einen verbesserten Zugang zu Dienstleistungen im Gesundheitsbereich oder in der Bildung.“

„Ich muss nicht mehr einen jungen Mitarbeiter einfliegen lassen, der hilft - sondern das machen die Flüchtlinge jetzt selbst.“

—  Zitat: Pater Peter Balleis, JWL

Dezentralisierung: Mit digitalen Mitteln an die Ränder gehen

Um genau die Menschen an den Rändern zu erreichen, haben die Jesuiten das Online-Lernprogramm Jesuit Worldwide Learning (JWL) ins Leben gerufen. Erstmals ist dadurch auch in Flüchtlingslagern ein Universitätsstudium möglich. „Von den Flüchtlingen haben weniger als drei Prozent Zugang zu Bildung“, betont der Leiter von JWL, Pater Peter Balleis SJ. Während ein früheres Fernlernprogramm, bei dem die Unterlagen den Studenten zugeschickt wurden, wenig Erfolg brachte – von rund 70 eingeschriebenen Studenten machten etwa 20 den Abschluss – ist mithilfe des Online-Programms die Erfolgsquote bei den Abschlüssen stark gestiegen. „70 Prozent der Studenten ziehen das Programm jetzt durch“, so der Jesuit.

Mit einer Kombination aus computergestütztem Lernen und klassischem Unterricht können die Studenten hier Bachelor-Abschlüsse in Liberal Arts und diverse Weiterbildungsprogramme absolvieren. 2018 waren rund 4.000 Studenten weltweit in 9.500 Kursen und Studiengängen des JWL-Programms eingeschrieben. „Was sich ganz klar verändert, ist, dass die Studenten nach ihrem Abschluss vor Ort Führungskräfte werden“, betont Pater Balleis. „Überall, wo wir JWL-Programme anbieten, haben unsere eigenen Studenten später die Führung über die Lernzentren übernommen. Ich muss nicht mehr einen jungen Mitarbeiter einfliegen lassen, der sich vor die Klasse stellt und hilft – sondern das machen die Flüchtlinge jetzt selbst“, berichtet er stolz.

Einer von ihnen ist der kongolesische Flüchtling Jacques Baeni, der seit 2014 mit seiner Frau und seinen zwei Kindern im Flüchtlingscamp Dzaleka in Malawi lebt. Der 34-jährige Jurist musste seine Heimat, die Demokratische Republik Kongo, verlassen, weil er dort mit seiner Menschenrechtsarbeit in Gefahr geriet. Nun lebt er in dem Flüchtlingscamp, das bereits seit 20 Jahren existiert und rund 34.000 Menschen aus dem Kongo, Ruanda, Burundi, Somalia und Malawi beherbergt. Mithilfe des JWL-Programms bildete Baeni sich fort und unterstützt nun andere Flüchtlinge im Camp – auch bei der Vorbereitung der Online-Kurse. „Einige hier im Camp lernen den Umgang mit dem Computer in einem sechsmonatigen Computerkurs. Sie schaffen das gut. Es gibt aber auch manche, mit denen wir hart arbeiten müssen. Einmal hatte ich einen Schüler aus dem Kongo, dessen Hände verstümmelt wurden und der nur noch einen Finger hatte. Er brauchte natürlich besondere Unterstützung“, erzählt Baeni.

Auch die 23-jährige Afghanin Siamoy Rasa hat mithilfe des JWL-Online-Programms Englisch gelernt und unterrichtet nun selbst an einem Englisch-Lernzentrum im zentralafghanischen Khidir. „Seit meiner Kindheit habe ich den Traum, Sozialarbeiterin zu werden, jemand, der mit den Menschen arbeitet, sie versteht und mit ihnen mitfühlt“, sagt Siamoy. Das Wissen, dass sie über das Online-Lernprogramm der Jesuiten selbst im entlegensten Dorf in Zentralafghanistan erwerben konnte, will sie nun „ihren Leuten“ weitergeben. Siamoy macht nun zusätzlich den Bachelor im Fach „Leadership“, „weil ich eine große Führungspersönlichkeit sein werde und meine Provinz und Afghanistan langsam verändern werde“, wie sie sagt. Schließlich möchte ich eine treibende Kraft des Wandels sein in meinem Land und anderen die Bedeutung von Menschlichkeit, Mitgefühl, Hilfe, Empathie und Sympathie beibringen. Ich möchte die Menschen von den Wunden des Krieges, von Analphabetismus, Armut und Verlust heilen.“

Finanzielle Herausforderungen und Datenschutz

Aber Digitalisierung kostet eben auch: „Ein bisschen ungerecht ist es schon, dass kleine und mittelständische Unternehmen vom Wirtschaftsministerium Unterstützung und Förderung für digitale Maßnahmen erhalten“, so Spielmans. „Die NGOs müssen selbst sehen, wie sie technisch hinterherkommen. Und das vor dem Hintergrund, dass Extraausgaben für Verwaltung und Co. bei ihnen immer sehr kritisch beäugt werden.“ Schließlich sehen die Spender ihr Geld ja lieber bei den hilfsbedürftigen Menschen in Krisenregionen als in einem innovativen Online-Team in Deutschland.

Hinzu kommen bei Nichtregierungsorganisationen auch ideelle Bedenken, was die uneingeschränkte Nutzung von Daten in der Entwicklungszusammenarbeit angeht – und zwar nicht erst seit Eintreten der EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) im Mai 2018. Caritas international etwa beobachtet kritisch, wie das World Food Programm im Jemen Hilfen für Begünstigte an die Bedingung knüpft, dass sie sich biometrisch erfassen lassen. „Das hat schon seine Gründe, weil auch Vorwürfe da waren, dass Hilfe abgezweigt wurde und von Konfliktakteuren instrumentalisiert wurde“, erklärt Ole Hengelbrock, Referent für Grundsatzfragen bei Caritas international. Gleichzeitig gibt er zu bedenken, dass Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate hier die größten humanitären Geldgeber sind: „Was passiert mit diesen Daten?“ Hilfe an Bedingungen zu knüpfen, sei für sich genommen schon problematisch, „aber Menschen auch biometrisch zu erfassen und in digitalen Listen aufzuführen, ist noch mal eine neue Qualität, sie bloßzustellen und verletzbar zu machen“, so Hengelbrock.

Nach ihm sollte es keine pauschale Billigung einer Digitalisierungsagenda in der Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfe geben. Wichtig sei es für Caritas international, solche neuen Maßnahmen und Methoden auch zu Ende zu denken. „Im Zentrum steht immer noch der Mensch. Da geht es nicht darum, wie wir unsere Arbeit und Abläufe mit digitalen Mitteln vereinfachen können, sondern es geht eben auch um die Rechte von Menschen. Und das darf auf keinen Fall zu kurz kommen“, so Hengelbrock.

Bei all der Vorsicht nutzt Caritas international ebenfalls neue digitale Instrumente, vor allem „Cash Programme“, also Bargeldhilfen oder E-Gutscheine, damit die Menschen vor Ort selbst entscheiden können, was sie kaufen. Unterstützt wird das Programm von einer Online-Plattform, auf der die entsprechenden Daten gesammelt und analysiert werden. So kann die Situation der lokalen Märkte eingeschätzt werden. Darüber hinaus können die Nutzer direkt online ihr Feedback zu dem Programm abgeben, sodass kein Evaluierungsteam mehr mit Fragebögen anreisen muss. „Caritas international reflektiert diese neuen Methoden auch hausintern, veranstaltet Schulungen, lädt Experten ein und versucht, mit Augenmaß und kritischen Diskussionen die Vor- und Nachteile zu prüfen“, erklärt Hengelbrock.

Digitale Fallen: Der Bürgerkrieg in Echtzeit

Auch die Kommunikation mit den Partnern bekommt durch digitale Instrumente eine neue Qualität und muss kritisch geprüft werden, weiß der Leiter der Abteilung Weltkirche des Bistums Limburg, Winfried Montz. Seit mehr als 30 Jahren hat Limburg eine Bistumspartnerschaft mit Kumbo im englischsprachigen Teil Kameruns. Zu der vertrauensvollen Zusammenarbeit über Briefe und Faxe sind nun vielfältige Kommunikationsmöglichkeiten dazugekommen – aber nicht immer liegt in der Kürze die Würze. „Wenn ich den Partnerbischof oder den Verantwortlichen im Partnerprojekt kenne, kann ich anders kommunizieren, als wenn ich ein wenig einschätzbares Gegenüber habe, mit dem ich bestimmte Informationen in knapper Form übermittele. Da gibt es schon eine Unterschiedlichkeit in der Vertrautheit“, so Montz. Besonders kritisch sei die Kommunikation seit Ausbruch des Bürgerkrieg ähnlichen Konflikts in Kamerun. „Über die Sozialen Medien erhalten wir Videos von Folterszenen, es kursieren Fotos von Grausamkeiten, Ermordungen, Brandschatzungen und Überfällen, von denen wir nicht wissen, ob sie das Gegenüber gemacht hat, von wem es die Bilder aufgegriffen und weitergeleitet hat. Es gibt das Risiko, dass das Bildmaterial durch eine Konfliktpartei instrumentalisiert wird“, so Montz. Besonders ehemalige deutsche Freiwillige, die in Kamerun noch Freunde haben, würden durch diese Nachrichten schwer getroffen. „Da kommen Nachrichten von Freunden: ‚Hilf mir, was mache ich mit meinem Kind, wir sind hier gerade noch dem Kugelhagel entronnen‘“, berichtet Winfried Montz. Diese Freiwilligen müssten dann sehen, wie sie damit in ihrem eigenen Leben fertig werden. „Wir versuchen dann gemeinsam mit den Eltern zu helfen, dass dieser junge Mensch eine Verhältnismäßigkeit zu dem Ganzen aufbauen und den Kontext verstehen kann.“ Grundsätzlich sei es positiv, dass die Digitalisierung und die Sozialen Medien Anteilnahme an Freuden und Erlebnissen ermöglichten. „Aber wie kann man hier echte Anteilnahme und Solidarität herstellen?“, fragt Montz.

Der Kampf um Aufmerksamkeit im Netz

„Früher steckten humanitäre Dilemmata vielleicht eher in dicken Büchern, heute kann man durch einen Facebook-Post mit einer These junge Leute für etwas interessieren und dann tiefer einsteigen. Das kann ein guter Angelhaken sein“, sagt Ole Hengelbrock von Caritas international. Gleichzeitig gibt er zu bedenken: „Humanitäre Hilfe ist auch immer ein Anzeichen für gescheiterte Politik. Das ist sehr komplex. Durch digitale Mittel lassen sich humanitäre Einsätze dann aber sehr gut und effizient darstellen.“ Viele Organisationen auf dem riesigen humanitären Markt – auch im privaten Sektor – machten sich das zu Nutze. „Digital ist halt oft durchleuchtend, aber noch nicht erleuchtend. Die Frage ist, wie wir es schaffen, beides zu erreichen und durch digitale Medien vergessene Krisen präsenter zu machen. Es muss dabei ein Licht aufgehen.“

Dafür sorgt Lena Kretschmann. Die Leiterin der Online-Abteilung des Kindermissionswerks „Die Sternsinger“ und ihr Team sind auf zahlreichen Kanälen aktiv, um sowohl die Sternsinger selbst als auch Spender für die Arbeit des Hilfswerks zu begeistern. „Mit unserer Online-Arbeit wollen wir ein Wir-Gefühl für die Sternsinger-Community schaffen und auch unsere Wertschätzung für ihr Engagement zum Ausdruck bringen“, so Kretschmann. „Es geht auch darum zu zeigen, dass das Sternsingen keine verstaubte Kirchen-Aktion ist, sondern ein tolles, cooles Ereignis.“ Ein Student hat für das Hilfswerk eine eigene App entwickelt, die die Sternsinger und ihre Begleiter bei den Hausbesuchen unterstützt. Zudem ist das Kindermissionswerk auf Facebook, Instagram und zuletzt verstärkt auf Youtube unterwegs, um besonders die junge Zielgruppe zu erreichen.

Für ein erfolgreicheres Online-Marketing gibt es zahlreiche Möglichkeiten der bezahlten Werbung auf Facebook, Instagram oder über das Angebot Google Ad Grants, das Nichtregierungsorganisationen 10.000 Dollar pro Monat für Werbung zur Verfügung stellt. „Das nutzen wir und hilft uns natürlich bei der Vergrößerung bzw. dem Erhalt unserer Reichweiten“, so Kretschmann. „Zugleich sind damit aber auch sehr große Abhängigkeiten verbunden und die strengen Richtlinien erlauben es einem auch nicht, Werbung einfach so zu schalten, wie man das möchte.“ Nicht umsonst hebt der Bericht von VENRO auch die Verteidigung von Netzneutralität hervor, nach deren Prinzip alle Daten im Internet gleich behandelt werden müssen. Voraussetzung für ein freies und offenes Internet ist es, dass keine Inhalte blockiert, verlangsamt oder in Rechnung gestellt werden. Nichtregierungsorganisationen, die auch Menschen- und Bürgerrechte verteidigen, sind laut VENRO eine wichtige Stimme für die Verteidigung der Netzneutralität.

Dass die Nichtregierungsorganisationen insgesamt stärker zusammenarbeiten und ihre Forderungen gemeinsam nach außen tragen, wünscht sich auch Heike Spielmans vom Dachverband VENRO. „Mein Wunsch wäre es, dass im Vorfeld einer Bundestagswahl oder eines anderen wichtigen Ereignisses alle Organisationen mit einer Forderung gemeinsam auftreten. Eine gemeinsame Kampagne der Hilfsorganisationen eventuell sogar mit gemeinsamen Logo ist in der öffentlichen Wahrnehmung wirksamer.“ Vielleicht ist das Jahresthema Frieden, das die MARMICK-Hilfswerke Misereor, Adveniat, Missio Aachen und München, Caritas international, Renovabis und das Kindermissionswerk gemeinsam mit den Diözesen im Kirchenjahr 2020 starten, genau der richtige Anlass, um das auszuprobieren – analog und digital.

Von Claudia Zeisel

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