Das Mädchen Nour (12) packt in Bangladesch Snacks in Plastiktüten ab
Reportage aus Bangladesch

Wie Nour der Kinderarbeit entkam

Jessore/Aachen ‐ Nours Start ins Leben war hart. Doch mit ihrer Stärke und der Hilfe des Sternsinger-Partners ARKTF hat sie etwas geschafft, wovon andere arbeitende Kinder träumen: Sie kann zur Schule gehen – und sogar eigene Hobbys entdecken.

Erstellt: 27.12.2025
Aktualisiert: 11.12.2025
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Von Verena Hanf

Stark und zerbrechlich zugleich – diesen Eindruck vermittelt Nour immer wieder. Das zwölfjährige Mädchen steht kerzengerade im Versammlungsraum des Sternsinger-Partners ARKTF, einer Stiftung, die in der westbengalischen Stadt Jessore Kinderarbeit bekämpft. Etwas atemlos vor Aufregung, aber klar, schildert Nour, wo und warum sie seit ihrem achten Lebensjahr arbeiten musste, bevor ein Team von ARKTF sie an ihrem Arbeitsplatz entdeckte und ihre Not beendete. Die anderen Kinder, die wie Nour heute ins ARKTF-Zentrum gekommen sind, nicken hin und wieder. Auch sie haben hart arbeiten müssen, bevor die Sternsinger-Partnerorganisation eingriff und ihnen zu ihrem Recht auf Schutz und Bildung verhalf.

Schwerer Start

Nours Start ins Leben war nicht einfach. Das Leid begann schon lange vor ihrer Geburt. Nours Mutter Rhia war selbst noch ein Kind, als ihre Mutter starb. Rhias Vater musste seine vier Töchter allein aufziehen. Doch als Tagelöhner und Arbeiter in der Kissenproduktion verdiente er zu wenig. Rhia war erst 13 Jahre, als der Vater sie mit einem ihr unbekannten Mann verheiratete. Die Ehe sollte ihre Versorgung gewährleisten.

Doch statt Sicherheit folgten für Rhia Jahre schlimmer Misshandlungen durch den Ehemann. „Er war immer betrunken, immer äußerst aggressiv. Eines Tages hat er mich fast umgebracht“, berichtet die heute 25-Jährige. Auch nach der Geburt ihrer Tochter blieb er gewalttätig. „Ich hatte Angst um Nour. Sie hat Furchtbares mitansehen müssen. Auch um sie zu schützen, musste ich mich von meinem Mann trennen.“

Rhia zog zurück in ihr Elternhaus, wo sie sich nun ein Zimmer mit Nour teilt. Im anderen Zimmer der einfachen Unterkunft lebt ihr Vater. Nours Großvater ist ein von der Arbeit gezeichneter und kranker Mann. Nur mit Mühe kann er aufstehen, meist liegt er regungslos auf seinem Bett. Finanziell kann er seiner Tochter und Enkeltochter nicht unter die Arme greifen, er braucht selbst Hilfe. Doch in Bangladesch gibt es keine staatliche Kranken- und Sozialversicherung. Rhia pflegt ihren Vater, so gut sie kann. Ihre Schwestern leben nicht in der Nähe, sie kommen nur selten.

Arbeit und Ängste

Nach der Trennung von ihrem Mann konnte Rhia zunächst nicht arbeiten gehen, zu groß waren die von ihm zugefügten Verletzungen. Sie hatte kein Einkommen, und Nours Vater zahlte keinen Unterhalt. Nach Monaten in extremer Armut sah die junge Mutter keinen anderen Ausweg mehr, als die achtjährige Nour von der Schule zu nehmen und auch sie arbeiten zu lassen. „Ich fand es schrecklich, aber wir hatten einfach nicht genügend Geld fürs Nötigste“, so Rhia.

Ihre Tochter begann, tagsüber in einer Snackfabrik zu arbeiten. Sie musste putzen, ausgebrannte Kohle zusammenkehren und Päckchen für den Versand packen. „Der Chef hat oft geschimpft“, erinnert sich Nour. Ihr Gesicht verdüstert sich, wenn sie von den drei Jahren Fabrikarbeit spricht. „Ich mochte ihn nicht und hatte Angst vor ihm.“

Auch die Mutter im Blick

Bei einem seiner Rundgänge wurde ein ARKTF-Team auf die Fabrik aufmerksam und stattete ihr einen Besuch ab. „Die damals elfjährige Nour fiel mir sofort ins Auge. Ich habe gleich gesehen, dass sie viel zu jung zum Arbeiten ist und dass das Arbeitsumfeld ihr schadet“, erinnert sich Sozialarbeiterin und ARKTF-Koordinatorin Shelpi Khatun.

Wie in den meisten Ländern der Welt ist Kinderarbeit in Bangladesch verboten. Das ARKTF-Team stellte den Fabrikbesitzer zur Rede und klärte ihn über die geltenden Gesetze auf. Es setzte sich auch mit Nours Mutter in Verbindung und erfuhr von ihrer schwierigen Situation.

Das Mädchen Nour (12) sitzt auf seinem Bett in Bangladesch und schmökert in seinem Schulbuch
Bild: © Kindermissionswerk ‚Die Sternsinger‘ / ich.TV / K M Asad

Trotz Fortschritten im Kampf gegen Kinderarbeit müssen in Bangladesch noch immer rund 1,8 Millionen Kinder und Jugendliche arbeiten, 1,1 Millionen unter ausbeuterischen Bedingungen. Nour (12) war sechs Jahre, als sie mit der Arbeit in einer Snackfabrik begann. Heute geht sie wieder in die Schule.

Die Sternsinger-Partnerorganisation handelte schnell: Sie befreite Nour aus dem Arbeitsverhältnis und meldete sie in einer Schule an. Um sie nach der mehrjährigen Pause auf den Unterricht vorzubereiten, bekam Nour im ARKTF-Zentrum wochenlang Nachhilfe. Auch Mutter Rhia erhielt Unterstützung. ARKTF beriet sie und gab ihr ein kleines Startkapital, mit dem sie sich selbständig machen konnte.

Heute stellt Rhia zu Hause Tüten aus recyceltem Papier her und näht Kinderkleidung und Kissenbezüge, die sie in der Nachbarschaft verkauft. Der Erlös deckt die Kosten für Lebensmittel und Medikamente. Dank der Vermittlung des Sternsinger-Partners übernimmt Nours neue Schule einen Teil der Kosten für die Unterrichtsmaterialien. „Ich war so unglaublich glücklich, dass ich mit der Arbeit aufhören konnte und wieder in die Schule gehen kann“, sagt Nour, und lächelt. „Shelpi und die anderen bei ARKTF sind so tolle Menschen, weil sie mir das ermöglicht haben.“ Noch heute geht Nour nach der Schule gerne ins ARKTF-Zentrum, wo sie ihre Freundinnen trifft, Theater spielt und singt.

Trauer und Freude

Leicht abstreifen lässt sich die leidvolle Vergangenheit nicht. „Manchmal bin ich traurig wegen allem, was passiert ist“, sagt Nour. Sie sorgt sich auch immer wieder um ihre Mutter, der sie sehr nahesteht. „Ich will nicht, dass sie noch mehr leidet“, sagt Nour. „Ich will immer gut lernen und sie unterstützen, so gut ich kann.“ Shelpi Khatun legt beruhigend ihre Hand auf den Arm des Mädchens. Sie vermittelt Nour, dass sie sich nicht unter Druck setzen soll, denn sie ist ein Kind und muss keine Verantwortung tragen. Nour nickt: „Es erleichtert mich sehr, dass ARKTF sich auch um meine Mutter kümmert.“

Nours ernster Gesichtsausdruck kann innerhalb von Sekunden einem fröhlichen Lachen weichen. Begeistert erzählt sie von der Schule, die sie nun wieder besucht, von ihren Freundinnen, den netten Lehrern und ihren Hobbies – singen, malen, Theater spielen, Gedichte schreiben. Und von ihrem größten Ziel: Anwältin werden.

„Nour ist stark und talentiert“, weiß Shelpi Khatun, die das Mädchen noch immer regelmäßig besucht. „Ich kann mir vorstellen, dass sie ihren Traum verwirklicht.“ Mit Hilfe der Sternsinger sorgen sie und ihr Team zunächst jeden Tag dafür, dass Nour endlich wieder das machen kann, was für jedes Kind selbstverständlich sein sollte: geschützt aufwachsen, lernen, spielen, lachen und träumen.

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Hilfe und Aufklärung: die ARKTF-Stiftung

Die Sternsinger-Partnerorganisation ARKTF (Abdur Rashid Khan Thakur Foundation) setzt sich seit ihrer Gründung im Jahr 2002 in der Region Jessore und der gleichnamigen Stadt gegen Kinderarbeit ein. Das ARKTF-Team befreit Kinder und Jugendliche aus ausbeuterischen und gesundheitsschädlichen Arbeitsverhältnissen und unterstützt sie, damit sie eine Schule besuchen oder eine Ausbildung machen können.

Die Stiftung sensibilisiert Kinder, Eltern, Arbeitgeber, lokale Behörden und Regierungsmitarbeiter für Kinderrechte. Zudem vermittelt sie Kindern und ihren Familien Gesundheitsdienste, den Zugang zu sauberem Wasser und zu staatlichen Hilfen.

Seit der Gründung hat das engagierte Team von ARKTF mehr als 400 Kinder in Schulen integrieren können und rund 680 Jugendlichen eine Ausbildung vermittelt. Mehr als 3.000 arbeitende Kinder kamen zu Beratung und Unterricht in die ARKTF-Zentren und nahmen an Freizeitaktivitäten der Stiftung teil.

Hilfswerk

Kindermissionswerk „Die Sternsinger“

Das Kindermissionswerk „Die Sternsinger“ ist das Kinderhilfswerk der katholischen Kirche in Deutschland mit Sitz in Aachen. Seit 1959 organisiert es in Deutschland die „Aktion Dreikönigssingen“, seit 1961 zusammen mit dem Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ).

Kinder helfen Kindern ...
Wir schlagen eine Brücke von Deutschland nach Asien, Ozeanien, Afrika, Lateinamerika und Osteuropa. Die Brücke heißt „Kinder helfen Kindern“. Sie ist keine Einbahnstraße: Kinder hierzulande helfen mit vielfältigen Aktionen und ermöglichen dadurch dringende Kinder-Hilfsprojekte.

Gezielt und wirkungsvoll ...
Im Blick haben wir besonders Kinder in Not: Waisenkinder, Kinder mit Behinderungen, Kinder von Indigenen, Kinder in Kriegsgebieten und Flüchtlingslagern, Straßenkinder, HIV-Infizierte und aidskranke Kinder, Opfer von Naturkatastrophen. Unsere Hilfsaktionen und Projekte verstärken die Eigeninitiative vor Ort und zielen darauf, „dass Kinder heute und morgen leben können“.

Partnerschaftliche Hilfe
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