Ein Jahrhundert des Wartens: Estland feiert seine neue Diözese
Talinn/ ‐ Philippe Jourdan, Bischof von Tallinn, vergleicht seine Apostolische Administratur mit einem Teenager, dessen Kleider zu klein geworden sind. Dafür gibt es einen schönen Grund.
Aktualisiert: 25.10.2024
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„Es ist ein besonderes Geschenk zum 100. Geburtstag“, sagt Bischof Philippe Jourdan voller Freude. Doch in den Händen hält er kein verpacktes Präsent, sondern eine Entscheidung von großer Tragweite, die auch ihn persönlich betrifft. Tallinn wurde kürzlich von Papst Franziskus zur Diözese erhoben und Jourdan ist damit zum Bischof des neuen Bistums geworden. „Wir waren so etwas wie ein Teenager, dessen Kleider zu klein geworden sind und der etwas Passenderes in seiner Größe und seinem Alter entsprechend tragen sollte“, sagt der 64-Jährige.
Mit seinem Symbol aus dem Kleiderschrank meint der Bischof, die Gemeinschaft habe seit einem Jahrhundert auf diesen Moment gewartet. 1924 war die Apostolische Administratur von Papst Pius XI. gegründet worden. Das künftige Bistum hat diverse Verbindungen nach Deutschland: Seit 1995 zählt Estland zu den Fördergebieten des Bonifatiuswerkes. Das Hilfswerk hat seitdem zahlreiche Projekte in dem baltischen Land gefördert.
Historisches Ereignis
Anfang November sollte das 100-jährige Bestehen der Administratur mit einem Symposium in Tallinn gefeiert werden, das wird nun kurzerhand umbenannt werden müssen, sagt die Presseverantwortliche der neuen Diözese Marge Paas. „Plötzlich ist es passiert. Jetzt sind wir ein Bistum“, sagt Paas. „Es ist ein historisches Ereignis, gar ein Gnadenakt Gottes, den wir erhalten haben.“ Auch der Vizepräsident des Bonifatiusrates, Bernd Duhn, wird bei diesen Feierlichkeiten anwesend sein.
Die frohe Botschaft wurde Ende September von besonderem Besuch aus dem Vatikan überbracht, beziehungsweise aus Vilnius: Das „Geschenk der Diözese“ hatte Erzbischof Georg Gänswein bei seinem Einstandsbesuch im Gepäck. Gänswein, der frühere Privatsekretär von Papst Benedikt XVI., wurde im Juni vom Vatikan zum Nuntius für die baltischen Staaten ernannt und residiert nun in Vilnius. Bei einem Gebet mit Priestern, Ordensschwestern und katholischen Mitarbeitern verlas er ein Dokument, das zeitgleich auch im Vatikan veröffentlicht wurde und nur wenige Eingeweihte vor Ort kannten: Die Erhebungsurkunde der neuen Diözese.
„Das ist von großer Bedeutung“, sagt Bischof Jourdan. Es gehe dabei nicht um eine administrative Angelegenheit oder eine Namensfrage. „Es bedeutet, dass der Heilige Vater der Meinung ist, dass unsere Kirche nun ausreichend gereift, entwickelt und stabil ist, um als echte lokale katholische Kirche in Estland zu leben.“ Die Apostolische Administratur war hundert Jahre eine „provisorische und ungewöhnliche Lösung, um unserer örtlichen Kirche beim Wachsen zu helfen, niemals eine endgültige“, fügt der aus Frankreich stammende Geistliche hinzu. Er selbst begleitet den Wachstumsprozess schon lange: Seit 1996 lebt Jourdan in Estland und leitete seit 2005 als Titularbischof und Apostolischer Administrator die Geschicke der Kirche in Estland.
Rund 6.500 Mitglieder zählt die katholische Gemeinschaft, die meisten Katholiken leben in der Hauptstadt Tallinn, wo es neben der Peter- und Paul-Kirche, die nun die Kathedrale des Bistums wird, seit 2.000 auch ein Kloster des Brigitten-Ordens im Stadtteil Pirita gibt und sich seit sieben Jahren auch das Priesterseminar Redemptoris Mater des Neokatechumenalen Weges befindet, einer charismatischen Bewegung innerhalb der katholischen Kirche. Eine weitere Stadt mit nennenswert großer katholischer Gemeinde ist das südestnische Tartu, zu Deutsch Dorpat, wo es auch ein katholisches Gymnasium gibt und erst vor kurzem eine zweite griechisch-katholische Gemeinschaft überwiegend aus ukrainischen Flüchtlingen entstanden ist.
Lebendige Kirche – trotz jahrzehntelanger Unterdrückung
Darüber hinaus befinden sich vor allem im Osten Estlands sogenannte Missionspunkte, also kleinere Kirchen beziehungsweise Andachtsräume, die von den zumeist aus Polen stammenden Priestern nur an Sonntagen zu Gottesdienstfeiern angefahren werden. Mit Tallinn und Tartu gibt es landesweit acht Gemeinden. Jene im Osten des Landes sind vor allem russischsprachig und kämpfen mit dem demografischen Wandel. Vor diesem Hintergrund sei das „Bistums-Upgrade“ eine Ermutigung: „Wir sehen dies als einen Aufruf, unsere Arbeit noch intensiver fortzusetzen, neue Strukturen aufzubauen, besonders in Gegenden, in denen es noch keine regelmäßigen Gottesdienste gibt“, sagt Tomasz Materna. Der polnischstämmige Priester ist Dompfarrer in Tallinn und sieht in der Entscheidung des Papstes „ein wichtiges Zeichen für uns Priester, eine Bestätigung unserer Arbeit und unseres Engagements.“ Insgesamt 13 Priester sind in Estland engagiert, fünf davon aus Polen, weitere kommen aus Italien und Spanien.
Estland mit seinen heute fast 1,4 Millionen Einwohnern gehörte seit dem Zweiten Weltkrieg bis zur Unabhängigkeit 1991 unfreiwillig zur Sowjetunion. In jener Zeit wurden Menschenrechte wie freie Religionsausübung massiv von der Staatsmacht in Moskau eingeschränkt. Heute bezeichnen sich weniger als 30 Prozent der Bevölkerung als christlich, rund 14 Prozent sind lutherisch, 13 Prozent orthodox und die katholische Kirche hat einen Bevölkerungsanteil von etwa 0,5 Prozent.
In den anderen nordischen Ländern wie Finnland, Schweden, Norwegen, Dänemark und Island seien Diözesen schon viel früher gegründet worden, weil sie keine 50 Jahre sowjetischer Besatzung erleben mussten, während dieser die Kirchen nicht frei arbeiten konnten, betont Jourdan und ist erfreut über die „aufrichtige Freude“ der Lutheraner an dem neuen Tallinner Bistum: „Sie teilen die Freude ihrer katholischen Brüder mit dem Gefühl, dass das, was für die Katholiken in Estland gut ist, auch für alle anderen Christen gut ist.“
Doch noch sind viele Aufgaben zu erledigen. „Sicherlich gibt es noch viel zu tun. Und durch den Krieg in der Ukraine und seine Folgen in unserem Land sind weitere Herausforderungen hinzugekommen“, sagt Bischof Jourdan. „Aber die Wiedergeburt der katholischen Kirche in Estland seit dem Fall der Sowjetunion mit der Hilfe des Bonifatiuswerkes war ein wahres Wunder.“
Zahlreiche Großereignisse stehen an
Freude ist auch Monsignore Georg Austen anzumerken, wenn er von der Entwicklung spricht in Estland spricht. „Möge Gottes Gnade und Führung mit Ihnen sein, wenn Sie die Gläubigen von Tallinn leiten und sie auf ihrem geistlichen Weg begleiten“, sagt der Generalsekretär des Bonifatiuswerkes. Die Erhebung zum Bistum sei „ein bedeutsames Ereignis und ein Zeugnis für das Wachstum und die Lebendigkeit unserer katholischen Kirche in Estland“. Das Diaspora-Hilfswerk engagiert sich seit 30 Jahren in Estland, alleine in den letzten fünf Jahren bewilligte der Rat der paderborner Organisation mehr als 1,2 Millionen Euro für 22 Projekte in Estland
„Es ist eine sehr vielversprechende Zeit für uns“, sagt Bistumssprecherin Paas und meint damit nicht nur die vielen Veränderungen, die die Ernennung zur Diözese mit sich bringen. Zwischen Weihnachten und dem neuen Jahr wird die nun neue Diözese Tallinn Gastgeber des Europäischen Jugendtreffens der Taizé-Gemeinschaft sein, zu dem Tausende junge Menschen aus ganz Europa erwartet werden.
Außerdem hofft die Kirche auf ein weiteres besonderes Ereignis: die Seligsprechung von Eduard Profittlich. Profittlich war deutscher Jesuit und wirkte in der Zwischenkriegszeit in Estland als Apostolischer Administrator, also einer der Vor-Vorgänger von Jourdan. 1942 wurde er in sowjetischer Haft zum Tode verurteilt und gilt als Märtyrer. „Wir hoffen auf eine Seligsprechung. So Gott will, sehr bald,“ sagte Jourdan. Spekuliert worden war auf eine Seligsprechung im Zuge des 100-jährigen Bestehens der Apostolischen Administratur. Nun soll Profittlich Patron der neuen Diözese werden, kündigte Paas an. Aber es fehle noch die Seligsprechung.
Markus Nowak/Bonifatiuswerk /dr