Wie Flüchtende und Helfer den Alltag auf der Balkanroute erleben
Lipa ‐ Sie nennen es „Game“. Gewinner des „Spiels“ ist, wer es über die EU-Grenze schafft. Hauptsache ist, nicht von der kroatischen Grenzpolizei erwischt zu werden, die im Umgang mit illegalen Migranten nicht zimperlich ist.
Aktualisiert: 10.07.2024
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Flüchtlingscamp Lipa in Bosnien-Herzigowina, sieben Kilometer vor der Schengengrenze entfernt: In einem Schiffscontainer, der zum Friseurladen umfunktioniert wurde, wartet Warren auf einen Haarschnitt. Viermal hat der 20-Jährige aus Ghana bereits versucht, die grüne Grenze zu Kroatien zu überqueren. Immer wurde er erwischt.
Weshalb er seine als politisch stabil geltende Heimat verließ, um mit dem Flieger über Dubai nach Albanien und schließlich zu Fuß nach Montenegro und Bosnien zu gelangen? „Weil die Verwaltung versagt. Es gibt keine Jobs, die Krankenhäuser und Schulen sind schlecht. Es gibt keine Zukunft.“ Warren träumt davon, als Lkw-Fahrer in Italien zu arbeiten, sein Bruder sei schon dort. Dafür will er das „Game“, wie er die illegale Einreise in die EU nennt, auch ein fünftes Mal wagen.
Er ist einer von derzeit etwa 200 irregulären Migranten, die in Lipa Unterschlupf gefunden haben. Im Winter, wenn Schnee und Kälte die Übernachtung in den Wäldern unmöglich machen, steigt die Zahl um ein Vielfaches. In Lipa werden die Migranten registriert und zu sechst in Stockbetten-Containern untergebracht. Versorgt werden sie von der Internationalen Organisation für Migration (IOM), dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und einigen privaten und kirchlichen Organisationen. Selbst wenn sie um zwei Uhr nachts vom „Game“ zurückkämen, durstig und mittellos, würden sie hier versorgt, berichtet der bosnische Camp-Schichtleiter mit Stolz in der Stimme.
Drei Mahlzeiten täglich, kostenlose medizinische Versorgung, freier Ein- und Ausgang: Auf der Balkanroute, der zweitaktivsten Migrationsroute nach Europa, wirkt Lipa wie eine Oase. Menschenrechtler hingegen sehen in dem Camp eine humanitäre Tragödie und ein Sinnbild für Europas versagende Asylpolitik.
Schwer wiegt der Vorwurf, wonach EU-Mitglieder wie Deutschland oder Österreich mit der Finanzierung des Camps ihre Verantwortung auslagern. Einen Aufschrei gab es im vergangenen Jahr, als bekannt wurde, dass offenbar mit EU-Geld eine kleine Haftanstalt in Lipa gebaut wurde. Sie bleibe bis heute ungenutzt, betont der diensthabende Manager. Um die Sicherheit im Camp sicherzustellen, würden Migranten nach Herkunftsländern getrennt. Nichtsdestotrotz kursieren Gerüchte: über Lösegelderpressungen unter den Migranten, über Bandenfehden zwischen Afghanen, Nigerianern und Tunesiern, bis zu eingeschleusten Schleppern, die freie Durchfahrt bis nach Slowenien versprechen - Kostenpunkt 1.200 Euro.
Viele wollen keinen Fuß nach Lipa setzen
Mohamed träumt davon, Fußballer in Spanien zu werden. Aus Marokko schlug sich der 15-Jährige mit einem Freund an der Seite bis nach Bosnien durch: „Das Schwierigste waren der lange Weg und die Berge. Einmal ging uns auch das Essen aus.“
Mohamed gehört zu einer Gruppe Jugendlicher, die trotz ihrer Not keinen Fuß nach Lipa setzen wollen. Sie kamen in der nahe gelegenen Stadt Bihac unter, wo der Jesuiten-Flüchtlingsdienst JRS eine Unterkunft betreibt. Es gehe darum, eine menschenunwürdige Reise menschlicher zu machen, sagt JRS-Pressesprecherin Roberta Niksic. Im Camp veranstalten die Jesuiten Kreativworkshops und Bosnisch-Kurse, betreiben eine kleine Bibliothek und einen Friseursalon.
Vier Monate lebte Niksic während des Bosnienkrieges (1992-95) selbst als Flüchtling. Ihrer Meinung nach ist es heute mit den Pushbacks, also den Zurückweisungen an der Grenze, ähnlich wie mit Europas Asylwesen allgemein: Weiter finde Entmenschlichung statt, wenn auch „weniger offensichtlich“ als noch vor einigen Jahren. Narben und aufgerissene Hautpartien auf Armen und Beinen der Lipa-Bewohner zeugen von schmerzhaften Erfahrungen.
Seit Jahren drängen die JRS-Helfer auf eine Reform des europäischen Asylsystems. Mit dem neuen Migrations- und Asylpaket, das 2026 in Kraft treten soll, setzt die EU auf „strenge, aber faire Regeln“, um die Migrationsbewegung Richtung Europa langfristig zu „normalisieren“. Migranten aus Staaten mit einer Asylanerkennungsquote von weniger als 20 Prozent sollen künftig einem beschleunigten Screening an der EU-Außengrenze unterzogen werden. Ein Rechtsberater soll ihnen zur Seite stehen.
Wer kein Recht auf internationalen Schutz hat, wird zurückgeführt und „reintegriert“, so zumindest der Plan. Besonderes Augenmerk gelte verletzlichen Gruppen. Niksic bezweifelt, dass dies etwas an der aktuellen Situation ändert.
Unterdessen außerhalb von Camp Lipa: Eine Gruppe Nordafrikaner hat sich im Schatten eines Baumes niedergelassen. Eines ihrer Handys übersetzt aus dem Arabischen. Auf die Frage eines Journalisten beginnt ein Tunesier zu lachen. Auf dem Display ist zu lesen: „Mein Land wird 100 Jahre brauchen, um sich so weit zu ändern, dass ich zurückkehre.“
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Flucht und Asyl
Links zu Flucht & Asyl
- Website der Deutschen Bischofskonferenz: Flüchtlingshilfe der katholischen Kirche
- Website der Caritas: Fachinformationen zu Migration und Flucht
- Website der vatikanischen Abteilung für Migranten und Flüchtlinge
- Website der Internationalen Katholischen Migrationskommission ICMC