
Srebrenica – Verbrechen und Höhepunkt des Bosnien-Krieges
Srebrenica ‐ Am 11. Juli gedenkt die Welt der Opfer des Srebrenica-Massakers. Vor 30 Jahren töteten serbische Nationalisten mehr als 8.000 Muslime. Ein Überlebender und der UN-Chefankläger erinnern sich an die Gräuel.
Aktualisiert: 04.07.2025
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„Es war frühmorgens am 6. Juli, als die ersten Schüsse fielen“, erinnert sich Nedzad Avdic. Zunächst dachte seine Familie, dass es sich bloß um eine weitere Provokation der bosnisch-serbischen Armee handele. Doch diesmal wurde auf Menschen geschossen.
Avdic war 17 Jahre alt, als das Massaker von Srebrenica vor 30 Jahren begann. Binnen weniger Tage töteten serbische Nationalisten mehr als 8.000 muslimische Bosniaken - unter ihnen auch Avdics Vater und vier Onkel. Der Völkermord, der als Höhepunkt der Verbrechen des Bosnien-Krieges (1992-1995) gilt, belastet Bosnien-Herzegowina bis heute.
Auch Avdic wird immer noch verfolgt: nachts, von Uniformierten, vor allem im Sommer. „Die Albträume haben nie aufgehört“, erzählt der Ökonom. Nachdem die ersten Schüsse gefallen waren, versteckte er sich mit seinen Verwandten im Wald. Kurz darauf wurde die Gruppe von Soldaten der serbischen Teilrepublik Srpska gefangengenommen. „Manche schlugen sie so brutal zusammen, dass sie nicht mehr laufen konnten.“
In den kommenden Tagen sah er mit an, wie Nachbarn, Freunde und Fremde blutüberströmt starben. In einer Schule gefangen, hörte er im Nebenraum das automatische Feuer des Hinrichtungskommandos. Er selbst wurde mit anderen mitten in der Nacht an einen Baggersee gebracht – eine weitere Hinrichtungsstätte.
Dort wurde auch er angeschossen. Projektile von Maschinengewehren bohrten sich durch seine Brust, Arm und Bein. „Neben mir fielen die Menschen reihenweise um. In dem Moment wollte ich nur noch sterben.“ Wie durch ein Wunder überlebte Avdic – eine Tatsache, die er erst Tage später realisierte, als Dorfbewohner seine eiternden Wunden versorgten.
Schweigen und Nationalismus behindern Aufarbeitung
Schauplatzwechsel: Den Haag, drei Jahrzehnte nach dem Massaker. In einem UN-Gefängnis verbüßt Ratko Mladic, ehemaliger Militärchef der bosnischen Serben, eine lebenslange Freiheitsstrafe. Vorigen Monat beantragte seine Verteidigung die Freilassung des 83-Jährigen. Er soll unheilbar krank sein.
Serge Brammertz, Chefankläger des Internationalen Residualmechanismus für die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe (IRMTC, zuständig für Ruanda, Ex-Jugoslawien) sieht das Ansuchen gespalten: Einerseits sei die Möglichkeit auf einen würdigen Tod genau das, was eine zivilisierte Gesellschaft von der Barbarei der Kriegsverbrecher unterscheide. Andererseits wolle er im Sinne der Opfer und Hinterbliebenen „alles in unserer Macht Stehende tun“, damit Mladic im Gefängnis bleibt. Ohnehin gebe es dort die beste medizinische Versorgung.
Brammertz zeigt sich enttäuscht über die langsame Aufarbeitung des Genozids. Mit Blick auf 7.500 Opfer, die immer noch als vermisst gelten, sagt er: „Für jeden Vermissten gibt es zumindest einen, der weiß, wo sich die Person befindet. Sei es der Arbeiter, der die Person vergraben hat, der Busfahrer, der sie zur Exekution gebracht hat, oder der Baggerfahrer, der das Massengrab ausgehoben hat.“ Doch es herrscht Schweigen. Untermauert wird es von Nationalisten, die den Völkermord offen leugnen und Kriegsverbrecher als „Helden“ feiern.
Bekommt Versöhnung eine Chance?
Aufholbedarf gibt es laut Brammertz auch bei der regionalen Zusammenarbeit. Einige kroatische oder serbische Ex-Militärs flohen in die Nachbarländer und nahmen deren Staatsbürgerschaft an. „Das bringt uns in die unglaubliche Situation, dass in der Mitte Europas mutmaßliche Völkermörder 30 Kilometer von dem Ort entfernt leben, wo sie ihre Straftaten begangen haben“, so der UN-Ankläger. Zwar sei es eine Traumvorstellung zu glauben, dass die strafrechtliche Aufarbeitung direkt zu Versöhnung in Bosnien-Herzegowina führen könnte. „Dennoch bleibt die Verurteilung der Schuldigen eine Voraussetzung, um der Versöhnung überhaupt eine Chance zu geben.“
Davon scheint die Vielvölkernation aus Bosniaken, Serben und Kroaten allerdings noch denkbar weit entfernt. Das Zusammenleben wird verpatzt von ethnischen Nationalisten. Der bekannteste unter ihnen: Serben-Führer Milorad Dodik. Der Präsident der Republika Srpska droht regelmäßig, sein Serbengebiet von dem Balkan-Staat abzuspalten. Trotz eines im März erlassenen Haftbefehls bleibt Dodik auf freiem Fuß. Darüber hinaus gibt es aber auch Lichtblicke. In der Hauptstadt Sarajevo verurteilte ein Richter jüngst erstmals eine Person wegen Genozid-Leugnung.
Auch Nedzad Avdic glaubt an ein anderes Bosnien-Herzegowina: Er gehört zu den sogenannten Rückkehrern, die sich Jahre nach dem Völkermord wieder in den Dörfern und Städten um Srebrenica niederließen. Dort leugneten selbst heute noch viele den Völkermord, sagt er; genauso wie die bosniakische Identität und Kultur.
Und: „Etliche Jugendliche, die nach dem Krieg geboren wurden, sind zu größeren Nationalisten geworden als die Kriegsverbrecher.“ Ständig seien sie Propaganda ausgesetzt; “sie haben keine Chance dazuzulernen“. Wie lange Avdic seine drei Töchter diesem vergifteten Klima noch aussetzen könne, sei fraglich, meint er. „Aber sollte ich tatsächlich wieder wegmüssen von hier, gehe ich mit Stolz: Ich habe es versucht!“

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