Wenn ein ganzes Land das eigene Staatsoberhaupt ablehnt
Lima ‐ Zur ersten Präsidentin Perus wurde Dina Boluarte eher aus Versehen, wollte dann aber die Scherben ihres Vorgängers aufkehren. Inzwischen hat sie das Volk durch allerhand Fehltritte gegen sich aufgebracht.
Aktualisiert: 14.06.2024
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Es sind Zahlen wie ein Faustschlag ins Gesicht: Rund 91 Prozent ihrer Landsleute halten die Arbeit von Präsidentin Dina Boluarte für schlecht. Gerade einmal fünf Prozent der Peruaner finden, dass sie einen guten Job macht. Im zweiten Amtsjahr hat das erste weibliche Staatsoberhaupt der Andennation die katastrophalsten Umfragewerte Lateinamerikas vorzuweisen. Innenminister Juan Jose Santivañez versuchte in dieser Woche, das miserable Meinungsbild herunterzuspielen: Die Regierung arbeite nicht für Popularität, sondern an der Lösung der Probleme.
Seit Dezember 2022 ist Boluarte im Amt. Sie folgte auf den umstrittenen Pedro Castillo, ein Dorfschullehrer und selbsternannter Marxist. Dieser hatte versucht, das Parlament zu entmachten, als dieses versuchte, ihn zu entmachten, und sitzt wegen des Putschversuchs nun im Gefängnis. Mit Boluarte sollte nach dem chaotischen und – das muss die Justiz noch feststellen – möglicherweise auch korrupten Castillo wieder mehr Ruhe in Peru einkehren, hofften viele. Die Messlatte lag also denkbar niedrig.
Doch Boluarte enttäuschte dennoch alle Erwartungen. Es reihten sich allerhand Pannen, Rückschläge und schwere politische Fehler aneinander. Gegen Sozialproteste im Land gingen die Sicherheitskräfte brutal vor, Dutzende Menschen starben. Die Öffentlichkeit lastete dies Boluarte an, die sich obendrein im Ton vergriff. Bis heute sind die Protest-Toten weder politisch noch juristisch aufgearbeitet.
Zuletzt folgte ein Skandal um goldene Rolex-Uhren, mit denen Boluarte bei öffentlichen Auftritten Aufmerksamkeit erregte. Erklärungen zur Herkunft der Luxusuhren fielen teils widersprüchlich aus. Die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen auf, der Vorwurf der illegalen Bereicherung steht im Raum. Die Glaubwürdigkeit der Politikerin ist seitdem endgültig dahin. Schließlich hatte sie versprochen, dass genau so etwas nach den Korruptionsvorwürfen gegen Vorgänger Castillo nicht mehr vorkommen werde. Besonders bitter ist der „Rolexgate“-Fall, weil in Peru zugleich die Armutsrate ein weiteres Mal anstieg – auf mittlerweile 29 Prozent der Bevölkerung.
Boluarte steht seit Dienstantritt immer wieder mit mindestens einem Bein am politischen Abgrund – und im Gefängnis, wo fast alle ihrer noch lebenden Vorgänger schon sitzen. Ein funktionierendes Krisenmanagement gibt es nicht. Fragen der Medien beantwortet sie bisweilen wochenlang nicht. Nichts deutet derzeit darauf hin, dass sie die verkorkste Amtszeit noch einmal retten könnte.
Dem Land droht auch noch von anderer Seite Ungemach. Das Parlament versucht, die politischen Parteien vor juristischer Verfolgung zu schützen. Kritiker wittern indes eine Art gesetzlichen Freifahrtschein. Hinzu kommen weitere umstrittene Maßnahmen. Die peruanischen Gesetzgeber verschärften jüngst ihr Vorgehen zur Kontrolle der Justiz- und Wahlbehörden, was Human Rights Watch kritisiert. Die Organisation befürchtet schwerwiegende Folgen wie eine Zunahme der organisierten Kriminalität bei gleichzeitig eingeschränkten Schutzmöglichkeiten.
Boluarte versucht derweil, der anhaltenden Staatskrise für einige Zeit zu entfliehen. Der Kongress gab ihr grünes Licht für eine mehrtägige China-Reise. Angesichts der verfahrenen Situation in Peru eine willkommene Gelegenheit, um ein wenig Abstand zu gewinnen.
Das Leben der Peruaner geht derweil weiter: Sie sind inzwischen daran gewöhnt, von Parlament und Präsident nichts zu erwarten und gestalten ihren Alltag wo nur möglich so, dass sie möglichst wenig Kontakt zu staatlichen Institutionen haben. A propos Institutionen: Die Regionalverwaltungen und die Bürokratie der Ministerien haben ein Eigenleben entwickelt, das sich kaum um Staatsoberhäupter und Minister schert.