Chirurgin fordert Aufklärung über Beschneidung von Frauen
Berlin ‐ Sie operiert verstümmelte Frauen und sitzt an ihrem Bett, wenn sie aufwachen: Die Berliner Oberärztin Cornelia Strunz ist erste Ansprechpartnerin von Frauen, die beschnitten wurden – auch mitten in Deutschland.
Aktualisiert: 06.02.2024
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Ohne Narkose und Wundversorgung: Frauen, die als kleine Mädchen an ihren Genitalien beschnitten wurden, sind oft schwer traumatisiert. Im „Desert Flower Center“ am Krankenhaus Waldfriede in Berlin-Zehlendorf können sie sich umfassend beraten und operieren lassen. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) sprach mit Oberärztin Cornelia Strunz über betroffene Frauen, die Folgen von Genitalverstümmelung und ihre Motivation als Ärztin.
Strunz ist auch Generalsekretärin der „Desert Flower Foundation“ in Deutschland – einer weltweiten Organisation, die sich gegen Genitalverstümmelung engagiert. Die Stiftung ist nach dem Buch und dem Kinofilm „Wüstenblume“ (Desert Flower) benannt, die Genitalverstümmelungen an Frauen zum Thema hatten. Nach Angaben von Hilfsorganisationen leben weltweit - vor allem in Afrika - derzeit mindestens 200 Millionen Frauen und Mädchen mit den körperlichen, psychischen und sozialen Folgen dieser Praxis.
Frage: Frau Strunz, wie wird die Genitalverstümmelung von Frauen begründet?
Strunz: Die Frauen in meiner Sprechstunde wurden alle aus traditionellen Gründen beschnitten. Dies ist in vielen afrikanischen Ländern die Voraussetzung dafür, verheiratet zu werden, nur dann gelten die Mädchen als ‚rein‘. Dabei spielen auch für uns in Europa schwer nachvollziehbare Vorstellungen eine Rolle - etwa, dass die Klitoris ein wilder Stachel ist, der den Penis beim Geschlechtsverkehr verletzen kann. Oder dass die Schamlippen immer weiter wachsen, wenn man sie nicht beschneidet. Da Frauen in vielen afrikanischen Ländern davon abhängig sind, einen Ehemann zu finden, der finanziell für sie sorgt, haben sie oft keine Wahl.
Frage: Was sind das für Frauen, die sich bei Ihnen melden?
Strunz: Die allermeisten stammen aus Somalia, aber auch aus Guinea, Nigeria, Sierra Leone oder Gambia. Sie sind, wenn sie zu mir in die Sprechstunde kommen, im Durchschnitt Mitte 30 und wurden im Alter von vier bis zwölf Jahren beschnitten. Meist sind das entweder Frauen, die schon sehr lange in Deutschland leben und mich dann anrufen, weil sie sich lange über das Thema Gedanken gemacht haben. Oder es sind Flüchtlinge, die gerade nach Deutschland gekommen sind und dann etwa mit Unterbauchschmerzen zu mir geschickt werden. Manchmal geht es auch um eine Bescheinigung: Beschneidung gilt in einigen Fällen als Asylgrund.
Frage: Müssen Sie oft Überzeugungsarbeit leisten für eine Operation, die Klitoris und Schamlippen rekonstruiert?
Strunz: Nein, darum geht es auch nicht primär. Von den mehr als 700 Frauen, die ich seit der Gründung des Desert Flower Centrums vor elf Jahren in meiner Sprechstunde gesehen habe, wurden weniger als die Hälfte operiert. Einige Frauen würden von einer Operation nicht profitieren beziehungsweise würde die Operation die von den Frauen angegebenen Schmerzen nicht lindern.
Häufig ohne Betäubung
Frage: Wie läuft eine Beratung in Ihrer Sprechstunde ab?
Strunz: Jede Behandlung ist kostenlos, auch wenn die Frau nicht krankenversichert ist. Beim ersten Gespräch, wenn die Frauen erst einmal gar nicht von ihrer Leidensgeschichte erzählen wollen, nähere ich mich behutsam dem Thema der Beschneidung an. Ich frage sie, ob sie sich daran erinnern können, was damals passiert ist. Wer die Beschneidung durchgeführt hat, ob sie danach zwangsverheiratet wurden und ob sie Probleme hatten beim ersten Geschlechtsverkehr. Manchmal werden die Frauen für den ersten Geschlechtsverkehr auch wieder geöffnet und danach wieder zugenäht. Das kann sich drei oder vier Mal wiederholen.
Frage: Es gibt also unterschiedliche Beschneidungsformen?
Strunz: Ja, und die wenigsten Frauen, die zu mir kommen, wissen, nach welcher Form sie beschnitten worden sind. So kann es sein, dass nicht nur Klitoris und Schamlippen entfernt wurden, sondern die Frau so zusammengenäht wurde, dass nur eine sehr kleine Öffnung bleibt, aus der Blut und Urin abfließen können. Klar ist: Jede Form der Beschneidung ist grausam, sie wird ohne Betäubung und unter unhygienischen Bedingungen durchgeführt.
Die meisten Frauen können sich genau daran erinnern, obwohl sie ja damals kleine Mädchen waren. Es ist für sie ein traumatisches Erlebnis, sie schauen mich mit verzerrtem Gesicht an, wenn sie mir davon erzählen. Sie würden ihre Mütter aber immer verteidigen, die ja dafür mitverantwortlich sind. Ihnen ist klar, dass sie es nicht besser wussten. Für mich ist es aber beruhigend zu wissen, dass sie selbst ihre Töchter nicht mehr beschneiden lassen wollen.
Frage: Welche Folgen kann eine Beschneidung haben?
Strunz: Entzündungen im Genitalbereich, Inkontinenz oder Fistelprobleme. Viele Frauen verlieren auch die sexuelle Empfindungsfähigkeit oder entwickeln große Schamgefühle.
Nicht in der Religion begründet
Frage: Findet auch in Deutschland Genitalverstümmelung statt?
Strunz: Das kommt durchaus vor. Dann wird die Beschneiderin eingeflogen, deren Beruf in den Herkunftsgesellschaften übrigens sehr angesehen ist. Oder die Mädchen werden in den Sommerferien in ihrer alten Heimat beschnitten. Die Betroffenen melden das aber nicht, weil sie Angst vor den rechtlichen Konsequenzen für ihre Familien haben – Genitalverstümmelung gilt in Deutschland als schwere Körperverletzung. Klar ist auch, wer die Beschneidung durch eine Operation rückgängig macht, lehnt sich indirekt gegen die Community auf. Das kann insbesondere im Heimatland dann zu Problemen führen.
Frage: In Afrika leben Millionen Frauen mit Genitalverstümmelung, in Europa Hunderttausende. Was kann man dagegen tun?
Strunz: Weibliche Genitalverstümmelung kann man nur durch konsequente Aufklärung über die Folgen – auch in strafrechtlicher Hinsicht – bekämpfen. Das kollektive Schweigen über dieses Verbrechen und der soziale Druck müssen endlich aufhören. Es ist nicht im Islam oder irgendeiner anderen Religion begründet.
Frage: Warum machen Sie diese Arbeit?
Strunz: Ich möchte den Frauen ihre Würde zurückgeben. Sie sollen sich wieder in ihrem Körper wohlfühlen können. Manche fühlen sich durch die Beschneidung nicht als ganze Frau, sie wollen das zurückhaben, was ihnen weggenommen wurde und dann neu in ihrem Leben durchstarten. Ich bekomme ganz viel Dankbarkeit zurück.