Ein Traum von gleicher Würde
Genf ‐ Nach den Gräueln der Weltkriege sollte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Gewalt eine Grenze setzen. Obwohl von moralischem Gewicht, blieb ihr Erfolg begrenzt. Dafür nehmen neue Herausforderungen zu.
Aktualisiert: 30.11.2023
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Mit Waffen ausgetragene Konflikte wie nie zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg, wachsende globale Ungleichheit, vielerorts erodierende Bürgerrechte, eine unregulierte technologische Entwicklung und die Folgen des Klimawandels: „In dieser Zeit der Krise, in der die Zukunft ungewiss ist, Uneinigkeit herrscht und Lösungen unerreichbar scheinen, sind es unsere Grundwerte, die in den Menschenrechten festgeschrieben sind, die uns klug auf einen lichteren Pfad führen können“ – so lautet die Ermutigung von Volker Türk, UN-Menschenrechtskommissar, mit Blick auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die vor 75 Jahren verabschiedet wurde.
Die Barbarei zweier Weltkriege hatte die Staatengemeinschaft zu der Einsicht geführt, dass es notwendig sei, „die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechtes zu schützen“. Am 10. Dezember 1948 hielt die noch junge Organisation der Vereinten Nationen bei einer Generalversammlung im Pariser Palais de Chaillot fest: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Mit Vernunft und Gewissen begabt, sollten sie „einander im Geist der Solidarität begegnen“.
Eine Reihe von Rechten schließt sich daran an: das Recht auf Leben, Gewissens- und Glaubensfreiheit, das Verbot der Sklaverei und der Folter, die Gleichheit vor dem Gesetz und das Recht auf Asyl, aber auch soziale Rechte wie das auf Arbeit und gleichen Lohn, auf Erholung, Wohlfahrt, Bildung und Kulturleben. Angenommen wurde die Erklärung mit den Stimmen von 48 Staaten; acht enthielten sich, darunter die Sowjetunion, Polen, Saudi-Arabien und Südafrika.
Langes Ringen
Einfach war das Bemühen um einen universalen Katalog von Rechten und Freiheiten von Anfang an nicht: Die Autorenkommission unter Leitung von Eleanor Roosevelt musste monatelang um einen Kompromiss ringen, um westliche und sozialistische Staaten auf einen Nenner zu bringen. Das Ergebnis hatte keine Vertragskraft. Völkerrechtlich verbindlich waren erst der sogenannte Zivilpakt und der Sozialpakt, beide 1966 verabschiedet. Auch in ihnen spiegelt sich der damalige Ost-West-Konflikt: Während das eine Vertragswerk bürgerliche Rechte vor staatlichem Zugriff schützt, schreibt das andere wirtschaftliche und soziale Rechte als Grundlagen einer gerechten Gesellschaft fest.
Weitere Verträge und Erklärungen folgten, etwa die Konvention über die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (1979) und die Kinderrechtskonvention über die Rechte des Kindes (1989). Den globalen Entwicklungen folgend, erkannten die Vereinten Nationen 2010 das Recht auf Wasser als Menschenrecht an, im Juli 2022 das Recht auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt. UN-Generalsekretär Antonio Guterres sprach von einem „Meilenstein“ im Kampf gegen die dreifache planetare Krise von Klimawandel, Verlust der Artenvielfalt und Umweltverschmutzung.
Mehr Biss sollten die Erklärung von 1948 und die folgenden Übereinkommen unter anderem durch den UN-Menschenrechtsrat bekommen; aber auch dieses Gremium in Genf geriet in die Kritik, wenig wirksam und politisch nachgiebig zu sein. So übernahm im November ausgerechnet der Iran den Vorsitz des Sozialforums innerhalb des Rats. Und selbst Staaten, die als hehre Verteidiger von Grundrechten auftreten, nahmen es mit der Moral nicht immer sonderlich ernst: Ein Tiefpunkt sind die Folter-Vorwürfe gegen die US-Armee in Zusammenhang mit dem Irakkrieg 2003 und der Inhaftierung von Gefangenen in Guantanamo. „Das Prinzip von der Unteilbarkeit und Allgemeinheit der Menschenrechte, einst das Hohe Lied der westlichen Demokratien, hat im Krieg gegen den Terror Schaden genommen“, stellte die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach, 2004 fest.
Nicht einhellig akzeptiert
Darüber hinaus wird die UN-Menschenrechtserklärung in nicht-westlichen Kulturen auch grundsätzlich hinterfragt: Manche sehen sie zu sehr vom christlichen Erbe und der europäischen Aufklärung geprägt. Die Organisation für Islamische Zusammenarbeit, ein Zusammenschluss von 58 Staaten, verabschiedete deshalb 1990 eine eigene Kairoer Menschenrechtserklärung, die stärker aus der Perspektive des islamischen Religionsrechts formuliert ist. Auch die katholische Kirche, die das Projekt erst nach langen Jahren des Zögerns guthieß, trägt angesichts neuerer Entwicklungen wieder Bedenken: Den Vatikan sorgt eine mögliche Erweiterung um sexuelle und reproduktive Rechte.
Ein wirklich einhellig akzeptierter und durchsetzbarer Kanon von Menschenrechten ist also auch 75 Jahre nach der feierlichen Erklärung von Paris unerreicht. Derweil nehmen die Herausforderungen zu. Sie reichen von neuen Fragen auf dem Feld der Bioethik, der Künstlichen Intelligenz oder der Privatsphäre im Internet bis zu den global sich mehrenden Krisenherden: Wo Staaten instabil werden, Demokratien kränkeln, Rechtsstaatlichkeit aufweicht, die Bindekraft internationaler Abkommen schwindet und die Schere der Ressourcenverteilung sich weiter öffnet, wird es mit dem Schutz der Würde des Einzelnen schwierig. Die Menschenrechtserklärung, scheint es, hat ihre größte Zeit noch vor sich.