Milei-Lager: Anerkennung auch für Opfer linker Guerilla-Gewalt

Argentiniens Diktatur-Vergangenheit ist im Wahlkampf angekommen

Buenos Aires  ‐ Rund 30.000 Opfer forderte die rechte Militärdiktatur in Argentinien. Das Lager von Präsidentschaftskandidat Milei verlangt nun ein „vollständiges Gedenken“ – auch für Guerilla-Opfer. Gerechtigkeit oder Revanchismus?

Erstellt: 18.11.2023
Aktualisiert: 15.11.2023
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Von Tobias Käufer (KNA)

Mitten in den argentinischen Wahlkampf platzte die Nachricht: Die Vereinten Nationen haben das Museum der ehemaligen Marineschule der Marine (ESMA) in Buenos Aires in die Liste des Unesco-Welterbes aufgenommen. Genau diese Schule hatte das Militär während der Diktatur (1976-1983) zu einem Geheimgefängnis und zum größten Folterzentrum des Landes umfunktioniert. Die Entscheidung solle helfen, an die rund 5.000 Opfer, die dort getötet wurden oder spurlos verschwanden, zu erinnern, so die UN-Kulturorganisation.

Zu den perfidesten und brutalsten Methoden der Militärs gehörte damals das Entführen von neugeborenen Babys von Oppositionellen, um sie anderen Familien weiterzugeben. Ebenso zählte das Abwerfen von Regierungsgegnern aus Flugzeugen aus großer Höhe über dem Wasser sowie jede erdenkliche Art unmenschlicher Folter zu ihrem Handwerkszeug. Ein Flugzeug aus dieser Zeit der Todesflüge ist auch auf dem ESMA-Gelände zu sehen. Zu den wichtigsten Gedenkstätten auf der Unesco-Liste zählen auch das ehemalige NS-Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und die Friedensgedenkstätte im japanischen Hiroshima.

Im argentinischen Wahlkampf, der am Sonntag in die mit Spannung erwartete Stichwahl mündet, wird nun auch wieder über die Deutungshoheit der damaligen Ereignisse gestritten. Victoria Villarruel, Vizekandidatin des radikal-marktliberalen Präsidentschaftsbewerbers Javier Milei, forderte ein „vollständiges Gedenken“. Zu diesem Zweck rief sie kürzlich zu einer Veranstaltung zu Ehren „der anderen Opfer“ der politischen Gewalt der 70er Jahre auf. Konkret meinte Villarruel damit Personen, die von linksextremen Guerillagruppen ermordet wurden. Angehörige dieser Opfer lud die Politikerin zum symbolträchtigen gemeinsamen Gedenken ein. Der Hintergrund: Ihr Vater Eduardo Marcelo Villarruel war 1975 an einer von Isabel Peron beauftragten Militäroperation gegen linke Guerillas beteiligt.

Zivilgesellschaft: Konsens gebrochen

Durch den Vorstoß wurde eines der sensibelsten Themen der jüngeren argentinischen Geschichte angesprochen. Aus Kreisen von Menschenrechtsverteidigern gab es dafür scharfe Kritik: „Ich bin besorgt darüber, dass diejenigen, die eine politische Führungsrolle anstreben, kein Geschichtsstudium absolvieren“, erklärte UN-Menschenrechtskommissar Volker Türk als Reaktion auf die Berichte aus Argentinien. Vertreter der Zivilgesellschaft warfen dem Milei-Lager vor, einen Konsens gebrochen zu haben.

Milei hatte das Thema Menschenrechte immer wieder zum Gegenstand des Wahlkampfes gemacht, doch dabei stets den Blick ausschließlich nach links gerichtet. Papst Franziskus warf er vor, dass er die Gewalt der drei Linksautokratien Kuba, Venezuela und Nicaragua nicht klar genug verurteile und sich damit auf deren Seite stelle. Zumindest im Fall Nicaragua ist das nicht mehr zutreffend. Im März verglich Franziskus das sandinistische Regime von Daniel Ortega – nach langem Schweigen – sogar mit der Nazi-Diktatur. Als Reaktion darauf brach Managua die diplomatischen Beziehungen zum Vatikan ab.

Tatsächlich gab es in Argentinien abseits der eher regierungsnahen Zivilgesellschaft immer Kritik, dass zwar der rund 30.000 Opfer der rechtsextremen Militärdiktatur gedacht werde, nicht aber der Opfer der linksextremen Guerilla, die von den Militärs bekämpft wurde. Gemeint waren damit die links-peronistischen „Montoneros“ und die marxistische ERP.

Carlos Enrique Pisoni, Sohn verschwundener linker Aktivisten, kritisierte laut der Tageszeitung „El Pais“ die Besorgnis und eine Unverhältnismäßigkeit: „Das ist Revanchismus. Wir können nicht 40 Jahre nach der Demokratie eine Vizepräsidentin haben, die die Werte der Demokratie nicht verteidigt. Sie sagt viele Grausamkeiten, die wir nicht hinnehmen können.“

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