Der Präsident der kirchlichen Indigenenfachstelle Cimi Erzbischof Roque Paloschi im Gespräch mit Indigenen vom Volk der Tenharim
„Zyklus von Perversität und Brutalität“

Indigenenrat in Brasilien zieht düstere Bilanz der Ära Bolsonaro

Brasiliens indigene Völker haben unter der Regierung des Rechtspopulisten Bolsonaro gelitten. Das zeigt ein neuer Gewaltbericht für 2022. Doch auch unter dem neuen Präsidenten Lula lauern Gefahren.

Erstellt: 27.07.2023
Aktualisiert: 27.07.2023
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Der katholische Indigenen-Missionsrat Cimi in Brasilien geht in seinem Jahresbericht „Gewalt gegen indigene Völker 2022“ hart mit der Regierung von Ex-Präsident Jair Messias Bolsonaro (2019-2022) ins Gericht. In dessen letztem Amtsjahr seien 309 Gebietsverletzungen indigenen Landes registriert worden, fast dreimal mehr als 2018 (109 Fälle), dem Jahr vor seinem Amtsantritt, teilte Cimi (Mittwoch Ortszeit) in der Hauptstadt Brasilia mit.

Hinzu kamen demnach 158 Konflikte um indigenes Land, nach 118 einschlägigen Fällen in 2021 und lediglich 35 in 2019. Laut Cimi ist der Anstieg eine direkte Folge unterbliebener Demarkation von Indigenengebieten unter der Regierung Bolsonaro – ein Verfahren, das eigentlich durch die Verfassung von 1988 vorgeschrieben ist.

Schutz zurückgefahren

Bolsonaro hat sein im Wahlkampfversprechen von 2018 tatsächlich eingehalten: Als erster Präsident seit 1988 wies er überhaupt keine neuen Indigenengebiete aus. Aus seiner Sicht besitzen die Indigenen bereits zu viel Land. Erfolglos versuchte sein Lager im Kongress, die Gebiete für eine wirtschaftliche Ausbeutung zu öffnen. Als Folge zurückgefahrenen staatlichen Schutzes habe sich dort aber die Präsenz von Drogenbanden und illegaler Goldsucher erhöht, erklärt Lucia Helena Rangel, Koordinatorin der Cimi-Erhebung.

Besorgt zeigt sich Rangel über die Lage indigener Kleinkinder bis vier Jahre: 2022 starben 835, im Vorjahr 917. In den vier Bolsonaro-Jahren seien insgesamt 3.552 Kinder dieser Altersgruppe an Krankheiten und Mangelernährung gestorben, 35 Prozent mehr als unter der Vorgängerregierung (2015-2018).

Leicht rückläufig war 2022 indes die Zahl der getöteten Indigenen, mit 180 gegenüber 203 Fällen im Vorjahr. Auch die Zahl der Suizide ging nach 160 Fällen 2021 auf nun 115 zurück. Insgesamt wurden im vergangenen Jahr 416 Indigene als Opfer von Gewalt registriert, etwas mehr als 2021 mit 387. Der Durchschnitt der vier Bolsonaro-Jahre lag mit 373,8 Fällen von Gewalt pro Jahr dagegen deutlich höher als in den vier Regierungsjahren zuvor (242,5 Fälle jährlich).

Drastisches Fazit der Bolsonaro-Zeit

Cimi-Missionar Roberto Antonio Liebgott sieht Brasilien nun am „Ende eines Vier-Jahres-Zyklus von Perversität und Brutalität gegen Indigene“. Bolsonaros Regierungsprogramm sei ein „Drehbuch des Genozids“ gewesen. Sein Diskurs und der Rückbau staatlicher Kontrollbehörden hätten gezeigt, dass die Indigenen nicht als Menschen angesehen würden, sondern als zu eliminierende Objekte, so Liebgotts drastisches Fazit. „Die Dehumanisierung war Teil dieses Drehbuchs, das mit dem Genozid der Indigenen enden sollte. Wir müssen dafür kämpfen, dass sich dies niemals wiederholt.“

Seit Januar regiert wieder der linke Luiz Inacio „Lula“ da Silva, der sich in seinen Reden gerne an die Seite der indigenen Völker stellt und eigens für deren Belange ein Ministerium ins Leben rief. Cleber Karipuna vom Indigenenverband APIB warnt jedoch vor zu viel Optimismus. „Die jetzige Regierung ist zwar offener für Dialog. Aber im Kongress und in den Regionalregierungen sitzen noch immer die Gleichen, die uns diese ganzen Jahre über stets angegriffen haben.“

Bild: © SJ-Bild/Adveniat

Adveniat-Hauptgeschäftsführer Pater Martin Maier

Ähnlich sieht das auch Pater Martin Maier, Hauptgeschäftsführer des deutschen Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat, das die Arbeit von Cimi seit Jahren unterstützt. Lulas Amtsantritt habe zwar Hoffnungen auf Schutz der indigenen Völker sowie des Amazonasgebietes geweckt. „Die beiden Kammern des Kongresses werden jedoch nach wie vor von indigenenfeindlichen Abgeordneten dominiert.“ Zudem sei zweifelhaft, ob das Oberste Gericht in der Frage des umstrittenen „Marco Temporal“ eine endgültige Klärung erreichen werde, sagte Maier der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).

Gemäß der Stichtagsregelung hätten indigene Völker nur Anrecht auf Gebiete, die sie im Moment der Verabschiedung der Verfassung 1988 tatsächlich besiedelten. „Wenn es dazu kommt, ist das ein Verbrechen an all jenen, die am Tag der Ausrufung der brasilianischen Verfassung von ihrem Land vertrieben waren, und auch eine Pervertierung der Verfassungsgrundsätze“, so Maier. „Denn dann wird ihre Vertreibung höchstrichterlich legalisiert.“ Das widerspreche der Verfassung, die den systematischen Verfolgungen Indigener während der Militärdiktatur ein Ende habe setzen sollen.

Noch ist offen, wann das Gericht über den „Marco Temporal“ entscheidet. Doch Maier stellt klar: „Es geht längst um das Überleben der circa 300 indigenen Völker Brasiliens.“ Das Recht, auf ihrem Territorium sicher zu leben, sei für sie existenziell. Bliebe der Status der Territorien unklar, würden Goldgräber, Holzfäller und Agrokonzerne dort eindringen und die Lebensgrundlage der Ureinwohner zerstören.

Adveniat-Mitteilung

„Kein einziges neues Schutzgebiet für die indigenen Völker, dafür aber drei Mal so viele Invasionen auf indigenen Territorien. Die Zahlen des Berichts über die Gewalt gegen Indigene zeigt: Es geht längst um das Überleben der zirka 300 ursprünglichen Völker Brasiliens.“ So fasst der Hauptgeschäftsführer des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat Pater Martin Maier die traurige Bilanz der Präsidentschaft von Jair Bolsonaro für die indigenen Völker Brasiliens zusammen. Die kirchliche Fachstelle für Indigenenfragen Cimi hat am Mittwoch, 26. Juli 2023 (Ortszeit), den Gewaltbericht für das Jahr 2022 vorgelegt, dessen Erstellung seit vielen Jahren vom Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat unterstützt wird. Im vergangenen Jahr kam es in 309 Fällen dazu, dass Teile indigener Schutzgebiete besetzt oder dort Ressourcen und Rohstoffe illegal ausgebeutet wurden. Das entspricht im zweiten Jahr in Folge einer Verdreifachung im Vergleich zu den Jahren vor der Präsidentschaft des rechtsextremen Bolsonaro.

Die Zahl der ermordeten Indigenen ist mit 180 weiterhin erschreckend hoch. Die systematische Gewalt gegen die indigenen Völker zeigt sich auch in der Zahl der gestorbenen Kleinkinder unter vier Jahren: 835 starben 2022. In den vergangenen vier Jahren der Bolsonaro-Präsidentschaft waren es insgesamt mehr als 3.500 und damit ein Drittel mehr als in den vier Jahren zuvor. Ähnliches gilt für die registrierten Gewalttaten. 2022 wurden 416 Indigene Opfer von Gewalt. Im Vorjahr lag die Zahl noch unter 400. „Der Cimi-Gewaltbericht belegt, dass die ursprünglichen Völker Brasiliens systematisch an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Die internationale Gemeinschaft darf nicht länger tatenlos zusehen, wie Indigene ermordet, ihre Territorien ausgebeutet und damit auch die für das Überleben der ganzen Menschheit notwendigen natürlichen Ressourcen unwiederbringlich vernichtet werden“, so Adveniat-Hauptgeschäftsführer Maier.

Das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat weist seit Jahren darauf hin, dass die indigenen Schutzgebiete zu den letzten unberührten Regenwaldgebieten gehören. „Zwischen dem Überleben der indigenen Völker und dem Überleben der Regenwälder etwa am Amazonas besteht ein direkter Zusammenhang“, erläutert Pater Maier. Deshalb sei es auch für das Weltklima von entscheidender Bedeutung, dass endlich alle 1.391 Gebieten, die Brasiliens Indigene für sich beanspruchen, anerkannt werden. 62 Prozent sind der Indigenenfachstelle Cimi zufolge noch nicht vollständig rechtlich anerkannt. Dabei ist für die ursprünglichen Völker das Recht auf ihr Territorium und seine gesicherte Umsetzung entscheidend. „Ist das Territorium gesichert, ist das Überleben des jeweiligen indigenen Volkes gesichert. Ist der Status unsicher, dringen Goldgräber, Holzfäller und Agrokonzerne ein und zerstören die Lebensgrundlage der Indigenen“, erläutert der Adveniat-Hauptgeschäftsführer.

Der Amtsantritt des neuen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva weckte Hoffnungen auf mehr Schutz für die indigenen Völker sowie den Schutz des für die Menschheit überlebenswichtigen Amazonasgebietes. „Mit Sônia Guajajara, die das Ministerium für indigene Völker leitet, ist erstmals eine Indigene Ministerin in der brasilianischen Regierung“, erklärt Pater Maier. „Die beiden Kammern des brasilianischen Kongresses, werden jedoch nach wie vor von indigenenfeindlichen Abgeordneten dominiert“, gibt der Adveniat-Hauptgeschäftsführer zu bedenken.

Auch die Signale des Obersten Gerichtshofs ließen nicht allzu viel Hoffnung auf eine Grundlage für die endgültige rechtliche Klärung der indigenen Territorien zu. Mit dem sogenannten „Marco Temporal“ wird eine Stichtagregelung debattiert, der zufolge indigene Völker nur dann ein Anrecht auf den Schutz ihres Territoriums haben, wenn sie am 5. Oktober 1988 auf diesem Land gelebt oder ihren Anspruch darauf gerichtlich angemeldet haben. „Wenn es dazu kommt, ist das ein Verbrechen an all den indigenen Völker, die am Tag der Ausrufung der brasilianischen Verfassung von ihrem Land vertrieben waren, und eine Pervertierung der Verfassungsgrundsätze“, erklärt Adveniat-Hauptgeschäftsführer Maier. „Denn dann wird ihre Vertreibung höchstrichterlich legalisiert. Das widerspricht der Verfassung, die den systematischen Verfolgungen Indigener während der Militärdiktatur ein Ende setzen wollte.“

Von Thomas Milz

KNA

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