Rukhshana Media
Exil-Journalistin über Lage der Frauen unter den Taliban

„Afghanistan ist jetzt voller Geschichten“

Bonn ‐ Ihre Arbeit für ein kritisches Internetportal hat Zahra Joya immer wieder in Gefahr gebracht. Aus dem Exil berichtet Joya im Interview, dass sie nicht nur Angst um ihr Team in Afghanistan hat.

Erstellt: 04.07.2023
Aktualisiert: 28.06.2023
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Die erste feministische Medienplattform Afghanistans – Rukhshana Media – trägt den Namen eines jungen Mädchens, das vor einer Zwangsehe floh und deshalb von den Taliban gesteinigt wurde. Mit dem Portal „Rukhshana“ will Chefredakteurin Zahra Joya (30) an Frauen erinnern, die ihr Leben durch extremistische Ideologien verloren haben. Inzwischen lebt sie in London und koordiniert von dort die Arbeit ihrer Kolleginnen im Reich der Taliban. Mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht sie über ihren Journalismus im Exil, die Lage ihrer Kolleginnen in Afghanistan und die Niere eines afghanischen Vaters.

Frage: Frau Joya, die Entfernung zwischen hier und Afghanistans Hauptstadt Kabul beträgt gute 7.000 Kilometer. Wie ist es für Sie, eine Medienplattform aus dem Exil zu betreiben?

Joya: Manchmal ist es schmerzhaft, weil ich so viele traurige Nachrichten höre, besonders für Frauen und Mädchen. Wenn ich ihre Geschichten höre und aufschreibe, kann ich manchmal kaum die Tränen zurückhalten. Frauen und Mädchen sind häuslicher Gewalt ausgesetzt; Zwangs- und Kinderheirat haben zugenommen. Ich bin physisch weit weg, aber geistig bin ich in Afghanistan. Zugleich ist es natürlich ein Privileg, die Stimme derer zu sein, die zum Schweigen gezwungen sind. Und ich habe Glück, dass ich jetzt in Sicherheit bin.

Frage: Wie funktioniert Ihre Arbeit?

Joya: In meinem Team von Rukhshana Media sind wir 15 Leute, die meisten Frauen. Wir haben versucht, Journalistinnen in der Medienlandschaft vor Ort zu halten. Was die alltägliche Arbeit erschwert, ist die Zeitverschiebung – im Winter vier Stunden. Aber das Hauptproblem ist die Sicherheit unseres Teams. Jeden Morgen, wenn ich aufwache, checke ich als erstes mein Handy und hoffe inständig, dass niemandem etwas zugestoßen ist. Es ist eine konstante Bedrohung.

Frage: Wie stehen Sie und Ihr Team in Afghanistan in Kontakt?

Joya: Zum Glück ist das Internet in Afghanistan stabil. Aber leider haben die Taliban in jüngster Zeit die Aktivitäten von Journalisten überwacht. Das macht uns am meisten Sorgen. Sie werfen uns vor, Propaganda zu betreiben. Ich habe viele Drohbotschaften von Taliban-Sprechern erhalten.

Kolleginnen im Untergrund

Frage: Von anderen Exil-Journalisten hört man, dass sie sich selbst im Westen nicht frei fühlen, weil kritische Berichte über ihr Heimatland Drohungen gegen Angehörige vor Ort nach sich ziehen können.

Joya: Absolut. Meine Eltern mussten aus Afghanistan flüchten. Meine Schwester sagt mir: „Zahra, du machst einen guten Job, aber du solltest vorsichtig sein, was die Sicherheit der Familie angeht.“

Frage: Nach Angaben von Reporter ohne Grenzen haben 80 Prozent der Journalistinnen seit dem Zusammenbruch der afghanischen Regierung ihre Arbeit verloren. Wie ist es Ihren Kolleginnen jetzt überhaupt noch möglich, in Afghanistan journalistisch zu arbeiten?

Joya: Über Möglichkeiten groß nachzudenken, kommt gar nicht in Frage. Wir müssen die Arbeit einfach machen. Meine Kolleginnen haben Leidenschaft, und sie haben die Macht ihrer Arbeit. Sie leben aber versteckt und arbeiten im Untergrund, unter falscher Identität und mit so wenig privatem Kontakt wie möglich.

Frage: Wie viele sind noch da?

Joya: Die meisten aus unserem Team von 15 Leuten sind noch da. Eine Handvoll musste flüchten.

„Ich habe Glück, dass ich jetzt in Sicherheit bin.“

—  Zitat: Zahra Joya

Frage: Können sie trotzdem unterwegs sein und recherchieren?

Joya: Ja, im Geheimen. Es ist ja so: Afghanistan ist jetzt voll von Geschichten, ständig passiert was. Die Menschen wollen teilen, was sie erleben, wissen Sie? Die Korruption und die Gewalt der Taliban. Aber sie fürchten sich auch; einige lehnen deshalb Interviews ab. Ihre Handys müssen unsere Journalistinnen immer zuhause lassen, weil die Taliban Dokumente, Fotos und Kommunikation kontrollieren.

Frage: Welche Rolle spielen Social Media?

Joya: Eine sehr wichtige. Zum Glück dürfen die Menschen in Afghanistan Social Media und das Internet ja noch nutzen. Wir veröffentlichen da die Geschichten der Frauen, posten Videos von Straßenprotesten. So können wir auch Widerstand mobilisieren. Die Hälfte der Bevölkerung hat alles verloren, sämtliche Rechte. Ich sehe es als unsere Verantwortung, diesen Frauen wenigstens eine Stimme zu geben.

Frage: Was für Geschichten veröffentlicht Rukhshana?

Joya: Es geht darum, wie afghanische Menschen betroffen sind vom Regime der Taliban und dem Rückzug der westlichen Länder. Neulich hatten wir eine Geschichte über einen Vater und seine Tochter. Sie war gezwungen, zuhause zu bleiben, als vor zwei Jahren die Taliban die Macht an sich gerissen haben. Sie versuchte alles, um ein Stipendium für ein Studium im Ausland zu kriegen – und es klappte! Um das Visum für die USA zu erhalten, musste sie aber nach Pakistan, weil die Botschaft in Kabul geschlossen war. Die Kosten für ein Visum und eine Reise sind sehr hoch, 1.500 US-Dollar - für eine arme Familie unmöglich. Der Vater des Mädchens hat deshalb eine seiner Nieren verkauft. Der Vater schrieb mir aus der Klinik eine Nachricht.

Frage: So entstehen also auch Geschichten.

Joya: Es gibt zwei Wege. Zum einen schreiben meine Kolleginnen die Geschichten von Menschen auf, die selbst nicht schreiben können. Wir veröffentlichen aber auch persönliche Berichte von Frauen über deren Lebenserfahrungen; zum Beispiel häusliche Gewalt, die Gewalt der Taliban, sexuelle Belästigung. Vor kurzem haben wir einen allgemeinen Aufruf an Eltern gestartet und sie gebeten, einen Brief an ihre Töchter zu schreiben, wenn diese ohne Bildung zuhause sitzen. Um sie aufzubauen.

Frage: Sind die Artikel hauptsächlich für ein afghanisches oder ein internationales Publikum gedacht?

Joya: Erfreulicherweise haben wir auch international Leserinnen und Leser, weil wir neben Farsi und Dari auch auf Englisch veröffentlichen.

Frage: Nach dem, was Sie gehört haben – sind die Taliban so grausam und repressiv wie vor 20 Jahren, oder haben sie sich verändert?

Joya: Nein. Die Taliban werden sich nicht ändern – es ist die gleiche Gruppe, die gleiche Ideologie, der gleiche Glaube und das gleiche Verhalten. Aber die Menschen innerhalb Afghanistans, die haben sich geändert.

Frage: Wie?

Joya: Früher, in der ersten Zeit der Taliban-Herrschaft, gab es keine Frauengruppen, die die Taliban herausgefordert hätten; die auf die Straße gegangen sind und gegen die Taliban protestiert haben. Höchstens vereinzelt ein paar in den großen Städten. Jetzt sind da viele mutige Frauen, die für ihre Rechte eintreten. Jetzt gibt es überall im Land geheime Schulen, in denen die Frauen selbst für ihre Bildung sorgen. Außerhalb Afghanistans haben wir Plattformen; wir haben Konferenzen und wir reden. Wir werden der Welt zeigen, dass sich die Taliban nicht verändert haben.

Die Fragen stellte Clara Engelien

KNA

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