„Auf dem Berggipfel bin ich meinem Sohn 2000 Meter näher“
Odesa/Freising ‐ Seit mehr als 16 Monaten trauert Tetjana (51) aus Odesa um ihren Sohn Andrij, der mit nur 26 Jahren im Krieg gegen Russland gefallen ist. Im Interview erzählt sie von unfassbarem Leid und darüber, wie sie mit ihrem Schmerz lebt.
Aktualisiert: 27.05.2024
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Frage: Erzählen Sie uns von Ihrem Sohn Andrij
Tetjana: Unser Andrjuscha, so nannten wir ihn, wurde am 8. Dezember 1995 geboren und musste gleich um sein Leben kämpfen: Er musste wiederbelebt werden. Damals konnten die Ärzte ihn retten. Leider wurde ihm kein langes Leben beschert. Andrjuscha war schon als Kind sehr wissbegierig und belesen. Nach der Schule hat er Medizin studiert - als erster in unserer Familie - und wollte sich auf die Transplantationschirurgie spezialisieren. Als Russland 2022 in die Ukraine einmarschierte, absolvierte Andrjuscha gerade die praktische Phase seines Studiums in einem Krankenhaus in Odesa.
Frage: Warum hat sich Ihr Sohn freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet?
Tetjana: Unser Sohn sah es als seine Pflicht an, uns und seine Heimat zu verteidigen. Als Chirurg wollte er an vorderster Front Menschenleben retten. Mitte März 2022 war es dann so weit. Für uns Eltern, seine jüngere Schwester und seine Freundin war es eine Zeit voller Sorge, aber er hat uns versichert, dass alles gut sein würde. Im Juni 2022 hat er sogar Sonderurlaub bekommen, um an der Uni die staatliche Abschlussprüfung abzulegen. Diese hat er mit „sehr gut“ bestanden. Wir waren so stolz auf ihn.
Frage: Am 13. Oktober 2022 bekamen Sie die Nachricht, dass Ihr Sohn nicht mehr lebt.
Tetjana: An diesem Tag geriet seine Brigade in der Region Cherson unter starken Beschuss. Eine Kugel traf Andrjuscha. Mein Sohn war auf der Stelle tot. Er wurde nur 26 Jahre alt. Der Verlust von Andrjuscha hat uns sehr schwer getroffen. Wir sind auch heute voller Schmerz. Mein Mann und ich haben unsere Stütze verloren, unsere Tochter ihren großen Bruder und Beschützer, seine Freundin ihren geliebten Partner, das Krankenhaus einen talentierten Chirurgen. Andrjuscha hatte noch sein ganzes Leben vor sich und hätte als Arzt so vielen Menschen helfen können.
Frage: Was hilft Ihnen, dieses unfassbare Leid zu ertragen?
Tetjana: Anfangs habe ich mich in meiner Trauer zurückgezogen und wollte keinen sehen. Nur mit seinen Freundinnen und Freunden konnte ich über Andrjuscha sprechen und gemeinsame Erinnerungen teilen. Später fand ich Unterstützung in einer Gruppe von anderen Müttern der gefallenen Soldaten, die Ähnliches durchmachen. Dieses Hilfsangebot kam über Pfarrer Roman aus meiner Kirchengemeinde*.
Frage: Wie sieht diese Unterstützung aus?
Tetjana: Wir sprechen über unsere Söhne, unternehmen zusammen Ausflüge und geben uns gegenseitig Halt. Einmal wollten wir auf die Howerla steigen, den höchsten Berg der Ukraine in den Karpaten. Ich hatte Sorge, dass ich es nicht schaffen würde, denn ich bin unsportlich. Doch dann sagte eine andere Mutter, die ihren 18-jährigen Sohn verloren hatte: „Stell dir vor: Dort oben werden wir unseren Söhnen 2000 Meter näher sein“. Und tatsächlich haben wir es gemeinsam geschafft! Das Bild von Andrjuscha habe ich mit auf den Berggipfel genommen. Er wäre sicherlich sehr stolz auf mich.
Frage: Das klingt nach einer wertvollen Unterstützung. Wie lebt Ihr Mann mit dem Verlust?
Tetjana: Für Väter gefallener Soldaten gibt es ein ähnliches Hilfsangebot. Mein Mann war zunächst skeptisch. Als er mit anderen Vätern zu einer dreitägigen Pilgerreise fahren sollte, kaufte er sich sogar für jeden Tag eine Rückfahrkarte. Doch er blieb bis zum Ende und sagte mir später: „Die Männer haben mich verstanden, weil sie mit dem gleichen Schmerz leben“.
Frage: Wie geht es Ihnen heute?
Tetjana: Der Schmerz ist da und er hat nicht nachgelassen. Ich suche Halt in meinem Glauben und in Gesprächen mit anderen Angehörigen, die auch trauern. Jeden Samstag führe ich ein Ritual durch: Zunächst gehe ich in die Kirche zum Gottesdienst für Verstorbene und bete für meinen Andrjuscha. Danach besuche ich seine Gedenktafel im Krankenhaus, wo er gearbeitet hat. Zum Schluss besuche ich das Grab meines Sohnes, bringe frische Blumen, spreche mit ihm, bitte um Rat. Ich bete täglich für meine Tochter und für eine friedliche Ukraine, für die unser Andrjuscha sein Leben gegeben hat.
* Die Selbsthilfegruppe für trauernde Angehörige der griechisch-katholischen Gemeinde in Odesa wird von Renovabis gefördert.