Symbolbild häusliche/sexuelle Gewalt/Feminizid
Traumata durch Krieg gegen Frauen

Vergewaltigungen beeinflussen bis heute Leben auf dem Westbalkan

Sarajevo/Wien  ‐ Seit Jahren gibt es Forderungen, Vergewaltigungen als „Kriegsinstrument“ ein für alle Mal zu ächten. Doch die traurige Wirklichkeit zeigt: Geschlechtsspezifische Gewalt vor allem gegen Frauen ist gang und gäbe.

Erstellt: 24.11.2023
Aktualisiert: 15.11.2023
Lesedauer: 
Von Markus Schönherr (KNA)

Eine junge Frau wird erschossen und das ganze Land ist Zeuge: In Bosnien und Herzegowina sorgte im August die Ermordung von Nizama Hecimovic für Schockwellen. Ihr Partner hatte die Tat mit dem Handy gefilmt und live auf Instagram übertragen. „Entsetzt“ reagierten nicht nur die Vereinten Nationen (UN). Landesweit gingen die Bosnier auf die Straßen mit Plakaten wie: „Schweigen bedeutet Mittäterschaft“. Dabei weisen Expertinnen vor dem Welttag gegen Gewalt an Frauen (25. November) darauf hin: Geschlechtsspezifische Gewalt hat in dem Westbalkan-Staat traurige Tradition.

Mehr als 100.000 Menschen verloren im Bosnienkrieg, der von 1992 bis 1995 zum Zerfall Jugoslawiens beitrug, ihr Leben. Eine andere Zahl aus diesem Konflikt hört man seltener, weiß die Juristin Olivera Simic: „Eines der Hauptmerkmale des bewaffneten Krieges in Bosnien (...) war der allgegenwärtige Gebrauch von Vergewaltigung und sexualisierter Gewalt.“ Binnen drei Jahren seien in den Kriegswirren etwa 20.000 Frauen vergewaltigt worden. Das Trauma wirke in vielen bosnischen Familien bis heute nach – und behindere die Versöhnung des Vielvölkerstaats.

Auch Jahrzehnte später noch spürbar

Meist habe es sich bei den Vergewaltigungsopfern um bosnische Musliminnen gehandelt. Doch auch ethnische Serbinnen und Kroatinnen seien zur Kriegsbeute verschiedener Armeen und Paramilitärs geworden, erzählt Simic. Vom Trauma sind laut der Professorin an der Griffith Law School auch die Kinder betroffen, die aus den Vergewaltigungen hervorgingen: „Studien zeigen, dass sie in ihren Gemeinschaften Stigmatisierung, Diskriminierung und Isolation erfahren und obendrein mit ihrer Identität ringen, die zwischen dem Täter (Vater) und dem Opfer (Mutter) zerrissen bleibt.“

Das Trauma sei in Bosniens Gesellschaft selbst drei Jahrzehnte später spürbar, berichtet die Frauenrechtlerin Lejla Gacanica in der Hauptstadt Sarajevo. „Es gab keinen systematischen und sensiblen Heilungsprozess. Überlebende mussten nach Hilfe suchen und fanden sie meist nur bei Frauenorganisationen.“ Eine davon ist die schwedische Stiftung Kvinna till Kvinna („Von Frau zu Frau“).

Die Programmbeauftragte Gacanica beklagt weitgehende Straflosigkeit für die Missbrauchstäter; die erste Verurteilung mit Schmerzensgeld habe es 2016 gegeben – mehr als 20 Jahre nach Kriegsende. Doppelt schwierig sei die Aufarbeitung zudem in einem Land, in dem nationalistische Politiker immer noch Keile zwischen Ethnien treiben, so etwa der bosnische Serben-Führer Milorad Dodik. „Das persönliche Trauma schafft eine Erzählung des Krieges, die im Gegensatz zum offiziellen Narrativ steht“, so Gacanica.

Und noch eine zermürbende Verbindung existiere zwischen den Jugoslawien-Massakern der 90er Jahre und der Situation der Bosnierinnen heute. So finde man die Gründe für Frauenmorde unter anderen in Existenzängsten, posttraumatischen Belastungsstörungen und anderen Kriegsrelikten. Wie „geschlechterblind“ der Staat laut Gacanica ist, zeige die Statistik. 48 Prozent der Bosnierinnen wurden mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von Missbrauch, wie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) dieses Jahr mitteilte. In mehr als acht von zehn Fällen wurde keine Anzeige erstattet.

Missstände bestehen noch immer

Ohnehin nehme die Polizei die Opfer selten ernst, klagen Frauenschützer. Bei einer Demo in Sarajevo im Oktober forderten sie: „Nicht eine weitere!“ Auch die Bürgermeisterin von Sarajevo, Benjamina Karic, räumte nun ein, dass häusliche Gewalt sich zu ‚unserer täglichen Realität‘ entwickelt habe. Wenige Stunden zuvor war eine 31-Jährige in der Hauptstadt von ihrem Lebenspartner ermordet worden.

Das Schicksal vergewaltigter Bosnierinnen kennt auch Tadeja Lackner. Als Psychotherapeutin des Opfervereins HEMAYAT begleitete sie in Wien etliche Betroffene aus dem ehemaligen Jugoslawien. Während die Täter frei blieben, es in einigen Fällen zu Reichtum schafften, kämpfen Lackners Klientinnen bis heute gegen das Trauma: „Die Entscheidung zur Flucht aus dem eigenen Heimatland, in dem Sicherheit und Schutz verlorengegangen sind, in ein anderes, sichereres Land ist sehr verständlich und auch nachvollziehbar. Und Missstände als Folge des Krieges bestehen in Bosnien nach wie vor.“

Wie die Therapeutin weiß auch Juristin Simic als Autorin des kürzlich veröffentlichten Buchs „Lola's War – Rape without punishment“, dass eine Heilung möglich ist. Aber: „Dafür braucht es Unterstützung, Verständnis und einen sicheren Ort, um über die traumatische Vergangenheit zu sprechen.“

Mehr zum Thema