„Die Grausamkeit gegenüber der Zivilbevölkerung lässt uns das Blut in den Adern gefrieren“
Wien ‐ Der Krieg im Nahen Osten hat die Geschehnisse in der Ukraine etwas aus der Berichterstattung verdrängt. Währenddessen bereitet sich die Ukraine derzeit auf den zweiten Kriegswinter vor, berichtet Kiews Erzbischof Schewtschuk.
Aktualisiert: 03.11.2023
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Im Schatten des Nahost-Kriegs ist der Krieg in der Ukraine nach Worten des Oberhauptes der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche in den vergangenen Wochen eskaliert. Eine Aussicht auf ein baldiges Ende gebe es nicht, sagte Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk im Interview auf der Webseite der Erzdiözese Wien. Mit dem neu entflammten Konflikt im Nahen Osten werde „immer offensichtlicher, dass Russland mit seinen Verbündeten, etwa dem Iran, den Krieg auf die ganze Welt auszubreiten versucht“, so der Kiewer Erzbischof. Nachdem es nicht möglich war, die Ukraine schnell einzunehmen, suche Russland nun auf der ganzen Welt Verbündete für den Krieg.
Schewtschuk weiter: „Es liegt auf der Hand, dass die Taktik darin besteht, die Weltmedien zum Thema Ukraine zum Schweigen zu bringen, indem man die Aufmerksamkeit der internationalen Gesellschaft auf das Heilige Land lenkt.“
Einmal mehr berichtete der Geistliche über das Ausmaß an Brutalität, mit dem der Krieg in seiner Heimat geführt werde. „Unseren Informationen zufolge verliert die russische Armee allein im Donbass-Gebiet fast 1.000 Soldaten pro Tag. Das Ausmaß der Verachtung menschlichen Lebens, das Russland an den Tag legt, ist erschütternd“, so Schewtschuk. „Die Grausamkeit gegenüber der Zivilbevölkerung lässt uns das Blut in den Adern gefrieren.“
Vorbereitungen auf den Winter
In der Ukraine bereiteten sich die Menschen auf den nächsten Kriegswinter vor; dieser werde noch schwieriger als im vergangenen Jahr, befürchtet der Großerzbischof. „In diesem Winter geht es um das nackte Überleben der Zivilbevölkerung.“ Im vergangenen Jahr habe Russland 60 Prozent des ukrainischen Stromnetzes zerstört. Diesmal versuchten sie, die restlichen 40 Prozent zu zerstören. Er selbst könne bezeugen, wie schlimm es ist, wenn es in einem Wohnhaus mit 12 oder 13 Stockwerken keinen Strom, keine Heizung und kein Wasser gibt: „Da wird das Leben praktisch unmöglich.“ Daher rechne er mit einer Flüchtlingswelle. „Menschen werden nicht nur vor Bombardierungen fliehen, sondern besonders auch vor der Kälte.“
Im Kampf gegen den Aggressor gehe es nicht nur um Waffen, betonte der Geistliche. „Wir müssen ihn alle gemeinsam aufhalten.“ Europa müsse verstehen, „dass jeder Cent, den sie Russland im Austausch für billiges Gas, Öl oder Erdöl geben, in Waffen umgewandelt wird“. Kein System von Sanktionen werde den Krieg stoppen, wenn man die grundlegenden Werte außen vorlasse. „Es ist offensichtlich, dass dieser Krieg katastrophale Zerstörungen verursacht, aber in erster Linie zerstört er den Menschen und die Menschenwürde“, so der Großerzbischof.
Ukraine-Kriegstrauma wird mitten in Europa ankommen
Die Kriegstraumata ukrainischer Männer und Familien werden nach Worten Großerzbischofs früher oder später auch mitten in Europa ankommen. Wenn eines Tages der Krieg zu Ende sei, werde sich die drängende Frage der Familienzusammenführung stellen, sagte er. „Natürlich werden unter diesen Vätern auch viele an der Front schwer verwundete Männer sein.“ Es werde noch viel Hilfe und Verständnis der europäischen Staaten brauchen, um diese Leiden zu erleichtern.
Seine Kirche habe im September eine soziologische Studie über die neuen ukrainischen Flüchtlinge in Europa in Auftrag gegeben, berichtete der Erzbischof. Ziel sei, die Lage besser zu verstehen. Der Großteil der ausgewanderten Gläubigen befinde sich demnach hauptsächlich in Polen und Deutschland. Fast die Hälfte der Befragten gehe davon aus, nicht mehr in die Ukraine zurückzukehren.
Vor dem Krieg zählte die griechisch-katholische Kirche in der Ukraine laut Schewtschuk etwa 200.000 Gläubige in Deutschland. Der jüngsten Studie zufolge seien nun 1,2 Millionen Ukrainer in Deutschland. Das seien vor allem Frauen und Kinder, da Männer das Land nicht verlassen dürften. Die Hälfte der Kinder sei unter 16 Jahre alt. Zugleich hätten 63 Prozent der Frauen eine Hochschulausbildung. „Kurz: Der bestausgebildete Teil unserer Gesellschaft lebt nun in Mitteleuropa“, erklärte der Geistliche.
Die Traumatisierungen seien bei weitem die größte seelsorgliche Herausforderung für die Kirche, so der Erzbischof weiter. „Ein verwundeter Soldat kehrt im besten Fall physisch nach Hause zurück. Auf psychischer Ebene ist es fast unmöglich, aus dem Krieg zurückzukommen.“ Deshalb werde die Seelsorge der Kirche „für Jahrzehnte eine Seelsorge der Heilung von unterschiedlichen Kriegsverwundungen sein“. Schon jetzt habe man dafür eine verpflichtende Ausbildung für alle Priester begonnen, damit diese die Menschen begleiten können.
KNA