Theologe: Aufarbeitung des Kolonialismus gewinnt an Schwung
Vechta ‐ Eine Briefmarke der vatikanischen Post zum Weltjugendtag hatte kürzlich einigen Wirbel ausgelöst – sie enthielt einen Verweis auf das portugiesische Kolonialreich. Für den Theologen Stefan Silber ein Hinweis auf Handlungsbedarf im Vatikan.
Aktualisiert: 20.07.2023
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„Entdeckung“ – dieses Wort ist im Zusammenhang mit europäischem Kolonialismus weiterhin geläufig. Zum Weltjugendtag in Portugal werden auch katholische Jugendliche aus vermeintlich „entdeckten“ Ländern des Globalen Südens erwartet. Wie es um die Verantwortung der katholischen Kirche mit Blick auf Kolonialismus und die Aufarbeitung steht, hat die Clara Engelien (KNA) den Theologen und Autor mehrerer Bücher über Postkolonialismus, Stefan Silber, gefragt.
Frage: Herr Silber, anlässlich des bevorstehenden Weltjugendtags in Lissabon hat der Vatikan im Mai eine Briefmarke veröffentlicht, auf der Papst Franziskus anstelle des portugiesischen Eroberers und Seefahrers König Heinrich abgebildet ist – und nach Protesten wieder zurückgezogen. Was sagt das über die Haltung des Vatikans zum Kolonialismus aus?
Silber: Wie schnell der Vatikan die Briefmarke zurückgezogen hat, zeugt doch von einem Problembewusstsein. Vor allem sagen aber die negativen Reaktionen auf die Briefmarke etwas darüber aus, wie heiß das Thema im Moment gekocht wird. Dass es ein Bewusstsein in der Öffentlichkeit dafür gibt, dass der Vatikan seine negative Rolle in der Geschichte noch nicht richtig aufgearbeitet hat. Die Erwartungen, dass der Vatikan hier mal ordentlich reinen Tisch macht, sind, glaube ich, im Moment in aller Welt relativ hoch.
Frage: Welches Potenzial sehen Sie in einem katholischen Großereignis wie dem Weltjugendtag für diese Aufarbeitung?
Silber: Unter Papst Franziskus kann ich mir das vorstellen. Das Thema Kolonialismus hat er von Anfang an auf der Tagesordnung gehabt – wenngleich aus einer etwas oberflächlichen Perspektive. Aber im Kontakt mit den indigenen Völkern und mit kritischen Auseinandersetzungen in den vergangenen Jahren hat sich seine Sicht deutlich weiterentwickelt.
Frage: Woran machen Sie das fest?
Silber: Er hat zum Beispiel die Einflussnahme der Industriestaaten in den Ländern des Globalen Südens als Neokolonialismus bezeichnet. Damit meint er wirtschaftliche Interventionen – die nach wie vor bestehende Ausbeutung.
Frage: Also ist damit zu rechnen, dass der Papst sich beim Weltjugendtag dazu äußert? Immerhin hat Portugal die längste Kolonialgeschichte Europas.
Silber: Nicht unbedingt. Der Papst macht ungern seine Gastgeber schlecht. Es ist aber ja nicht nur ein Papstbesuch in Portugal, sondern ein Weltjugendtag, zu dem Jugendliche aus der ganzen Welt kommen, die das Thema mitbringen. Daher könnte es sein, dass er das Thema in einer Weise anspricht, die niemanden verletzt.
Frage: Welche Rolle spielten Päpste und Kurie bei Eroberung und Versklavung während der europäischen Expansion?
Silber: Als im 15. Jahrhundert die Spanier und die Portugiesen anfingen, Amerika zu erobern und zu besiedeln, hat der damalige Papst Alexander VI. etwa den Spaniern die Gebiete westlich eines bestimmten Längengrades zugesprochen, östlich davon den Portugiesen. Er hat den beiden Kronen Ländereien geschenkt, die ihm nicht gehörten. Die Europäer waren damals der Überzeugung, die gehören sowieso niemandem. Also müssen wir die höchste Autorität auf Erden, den Stellvertreter Gottes, fragen.
Frage: Gibt es Unterschiede in der Mitverantwortung, die Kurie und Missionare am Kolonialismus tragen?
Silber: Alle tragen anteilig Verantwortung: Kurie, europäische Regierungen, die einzelnen Missionsgesellschaften und Ordensgemeinschaften, die Missionare ausgesandt haben. Die tiefe Überzeugung, dass es richtig ist, fremde Länder für sich zu beanspruchen, herrschte europaweit.
Entdeckungsdoktrin widerrufen
Frage: Das betraf ja auch die Frage nach Landbesitz.
Silber: Genau. Für uns in Europa ist völlig selbstverständlich: Ich kann Land besitzen. Ich gehe aufs Amt oder zum Notar, lasse einen Landtitel ausschreiben, dann gehört es mir. In sehr vielen Kulturen auf der Welt ist es den Menschen vollkommen fremd, Land zu verkaufen, einen Zaun aufzustellen. Es wird gemeinschaftlich besessen oder von niemandem, stattdessen gehört es sich selbst, den Ahnen oder der Gottheit. Da gibt es die unterschiedlichsten Vorstellungen. Und jetzt kommen Europäer und sagen: Es gehört uns. Auch die Kirche besitzt Land für ihre Kirchen und Missionsstationen. In der Gegenwart fangen manche Kirchen und Gemeinden an, sich über diese Geschichte Gedanken zu machen.
Frage: Einige bezeichnen die Christianisierung der kolonisierten Länder als Legitimationsgrundlage für die Kolonialisten.
Silber: War es auch. Die Kolonialisten haben sich ja unter anderem darauf berufen, das Evangelium zu bringen – Papst Pius IX. hat sogar noch im 19. Jahrhundert versucht, Christoph Kolumbus heiligsprechen zu lassen.
Frage: Wie positioniert sich der Vatikan heute?
Silber: Vor einigen Monaten hat der Vatikan die sogenannte Entdeckungsdoktrin in einer schriftlichen Erklärung widerrufen, und zwar mit einem typischen vatikanischen Muster: Die Doktrin wird zurückgenommen und zugleich behauptet, dass sie nie Teil der katholischen Glaubenslehre gewesen sei, sondern nur eine politische Bedeutung gehabt hätte.
Frage: Vom Papst selbst wurde die Erklärung nie kommentiert.
Silber: Das ist richtig. Auch bei seinem Besuch bei Indigenen in Kanada hat er darüber kein Wort verloren.
Frage: Woran liegt das?
Silber: Ich gehe von internen Absprachen im Vatikan aus, bei denen Juristen vorgeben, wann was gesagt werden darf. Es hat sich der Heilige Stuhl geäußert, völkerrechtlich ist die Thematik damit in trockenen Tüchern. Nur der, der auf dem Heiligen Stuhl sitzt, hat eben noch nichts dazu gesagt.
Frage: Was bedeutet es für unser Verständnis von Weltkirche und Theologie, wenn das Christentum vielerorts durch Gewalt etabliert wurde?
Silber: Es gibt Stimmen in den ehemaligen Kolonialländern, die sagen: Das Christentum muss weg hier, das ist korrumpiert. Andere versuchen, in einer postkolonialen, kritischen Weise mit diesem Erbe umzugehen. Sie wollen die unterdrückenden Strukturen, die sich bis in die Gegenwart halten, aufdecken, sichtbar machen und verändern.
Frage: Von welchen unterdrückenden Strukturen sprechen Sie?
Silber: Es gibt eine ganze Menge Fälle, in denen hier im Westen kolonial-geprägte Denkstrukturen sichtbar werden. In der Exegese zum Beispiel stecken rassistische Vorurteile. Im Hohelied der Liebe heißt es: „Schwarz bin ich und schön“. Im Hebräischen steht tatsächlich ein „und“. Die lateinische Bibelübersetzung hat aber schon vor Jahrhunderten übersetzt: „Schwarz bin ich, doch schön.“ Und so steht es in vielen Bibelübersetzungen in Europa bis heute. Was für ein Menschenbild dahinter steckt, ist leicht zu erschließen.
Frage: Wo steht aus Ihrer Sicht die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte abgesehen vom Heiligen Stuhl in der katholischen Kirche?
Silber: Sie steht nicht irgendwo, sie ist unterwegs – aber in verschiedenen Etappen. Es gibt Bereiche in der Wissenschaft, in den Jugendverbänden oder in manchen Ordensgemeinschaften, da ist sie sehr weit. Da ist viel publiziert, gedacht und auch verändert worden. In anderen Bereichen fangen die Menschen gerade erst an, darüber nachzudenken. Aber es ist ein Prozess, der momentan weltweit wieder an Schwung gewinnt.