Wo Kinder zittern, wenn sie ein Flugzeug am Himmel sehen
Bergkarabach ‐ Große Teile der Bevölkerung sind aus Bergkarabach im Südkaukasus geflohen. Betroffene berichten von traumatischen Erlebnissen, erzählt der Theologe Harutyun Harutyunyan aus der armenischen Bischofsstadt Jeghegnadsor im Interview.
Aktualisiert: 31.01.2023
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Große Teile der Bevölkerung sind aus Bergkarabach im Südkaukasus geflohen. Betroffene berichten von traumatischen Erlebnissen, erzählt der Theologe Harutyun Harutyunyan aus der armenischen Bischofsstadt Jeghegnadsor im Interview.
In der Konfliktregion Bergkarabach im Südkaukasus kommt es seit dem 27. September immer wieder zu schweren Kämpfen entlang der gesamten Front im Gebirge zwischen Armenien und Aserbaidschan. Die Zivilbevölkerung wird durch die Kampfhandlungen zur Flucht aus Bergkarabach in Richtung des armenischen Kernlandes gezwungen. Projektpartner des Hilfswerks Renovabis schätzen, dass sich etwa die Hälfte der Bevölkerung Bergkarabachs auf der Flucht befindet, darunter etwa 90 Prozent aller dort beheimateten Frauen und Kinder. Die ehemaligen Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan streiten sich seit Jahrzehnten erbittert um Bergkarabach, eine Region, die mehrheitlich von Armeniern bewohnt wird. Die dortige selbsternannte „Republik Arzakh“ wird international nicht anerkannt; völkerrechtlich ist sie Teil Aserbaidschans
Der Theologe Harutyun Harutyunyan, früherer Renovabis-Stipendiat an der Universität Münster, arbeitet bei der armenisch-apostolischen Eparchie Vayots Dzor in der Bischofsstadt Jeghegnadsor in Armenien, die Sitz des Bistums Vayots Dzor ist. Im Interview berichtet er von seinen Eindrücken.
Frage: wie geht es den Menschen, die vor den Kampfhandlungen fliehen mussten und jetzt im Landesinneren von Armenien versorgt werden?
Harutyun Harutyunyan: Allein in unserer Diözese befinden sich schon über 2000 Flüchtlinge – und es kommen immer neue dazu. Wir haben alle Jugendherbergen und Hotels bereits voll besetzt. Die meisten Menschen brauchen nicht nur Kleidung und Verpflegung, sondern an erster Stelle psychologische und seelsorgerliche Unterstützung, weil sie schwer traumatisiert sind. Es ist unklar, ob und wann sie zurück nach Bergkarabach reisen können, zumal die meisten ihre Häuser schon verloren haben. Wir haben auch mehrere Kinder, die das Leben in den Bunkern und Kellern nicht ertragen konnten und deshalb zuerst ohne Eltern nach Armenien gebracht werden mussten. Sie haben richtig Angst und zittern, wenn sie ein Flugzeug am Himmel sehen oder hören.
Frage: Bergkarabach ist seit vielen Jahren Konfliktregion. Die Hauptforderung aus dem Ausland und auch des Papstes lautet: Der Konflikt muss ohne Waffen zum Frieden führen. Was können die Kirchen konkret tun, um eine friedliche Lösung zu unterstützen?
Harutyun Harutyunyan: Wir stehen vor einer humanitären Katastrophe. Unsere Jahrhunderte alten Kirchbauten werden gerade vernichtet. Wenn die armenische Enklave in Bergkarabach besetzt und die Bewohner vertrieben werden, droht im Südkaukasus eine Konzentration radikaler islamischer Kräfte. Die Türkei nutzt diese Instabilität offenbar für eigene Machtinteressen, ähnlich wie in Libyen, im Irak und in Syrien. Angesichts der derzeitigen Kampfhandlungen müssten die Vertreter aller Kirchen und Glaubensgemeinschaften klare Worte finden und die Angriffe gegen die armenische Zivil-Bevölkerung verurteilen.
Frage: Die benachbarten Großmächte haben erheblichen Einfluss in der Region. In Armenien sind auch in Friedenszeiten russische Soldaten stationiert. Wie steht die Bevölkerung dazu – gerade jetzt, wo der Konflikt wieder aufgeflammt ist?
Harutyun Harutyunyan: Die meisten Einwohner erwarten mehr von Russland als bis jetzt gemacht wurde. Die russische Führung spricht bislang nur über ihre „Besorgnisse“. Selbst nach den Angriffen der aserbaidschanischen Luftwaffe Mitte Oktober auf das unmittelbare Gebiet Armeniens gab es keine klaren Ansagen unseres strategischen Partners. Daher wird das russische Kontingent von vielen Armeniern nicht wirklich wahrgenommen – weder im aktuellen Krieg noch als künftige potentielle Friedenstruppe. Zwar sind 5000 russische Soldaten an der südlichen Grenze stationiert und schützen uns vielleicht von den direkten Angriffen aus der Türkei – mehr sieht man aber von ihnen gerade nicht. Wenn man die Mitteilungen nach dem ersten offiziellen Telefonat zwischen Putin und Erdogan genau liest, sieht es für die Bürger beider südkaukasischen Kontrahenten nicht gut aus: Die benachbarten Großmächte wollen natürlich alles unter sich entscheiden, ohne auf die lokale Bevölkerung zu hören. Im Gegenteil, die Menschen hier werden nicht wirklich wahrgenommen; viele fühlen sich gar an die Geschichte während des Genozids im Osmanischen Reich vor 105 Jahren erinnert.
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Renovabis fordert Dialog und Verhandlungen
Die Solidaritätsaktion Renovabis fordert die Konfliktparteien auf, konkrete Handlungen des guten Willens und der Brüderlichkeit zu unternehmen: Die Streitigkeiten sollten — auch mit Rücksicht auf die schuldlos hinein gezogene Zivilbevölkerung — keinesfalls weiter mit Gewalt und Waffen, sondern durch Dialog und Verhandlungen gelöst werden. Renovabis empfiehlt daher, wie Papst Franziskus, das Gebet für den Frieden in der Kaukasusregion. In einer Region, die seit Jahrhunderten unter dem Einfluss von Großmachtsphären steht (russisch, osmanisch/türkisch, persisch) müssten die Menschen vor Ort bei der Suche nach Wegen für mehr Frieden und Gerechtigkeit unterstützt werden, schreibt das katholische Osteuropahilfswerk. Renovabis werde daher weiterhin soziale, pastorale und bildungsorientierte Projekte im Sinne der Menschen vor Ort in beiden Konfliktländern Armenien und Aserbaidschan fördern.Das Interview führte Renovabis-Info