Ubuntu drückt ein Ideal aus, nach dem es sich insofern zu streben lohnt, als dass es das Allgemeinwohl aller Menschen und deren „Einheit in Vielfalt“ zum Ziel hat. In Gegenüberstellung zu Descartes Ausspruch ‚Ich denke, also bin ich’ konstatiert der Sozialwissenschaftler Johann Broodryk aus Pretoria mit Hinblick auf Ubuntu: „’Ich fühle, ich bin in Beziehung, also bin ich.’ Es ist ganz bestimmt eine spirituelle Praxis, genauso aber eine Art Religion und ohne Frage auch eine Philosophie. Ich sage am liebsten eine Weltanschauung: ... Die Art wie ich denke, die Art, wie ich spreche, die Art, wie ich mich verhalte. ... Ubuntu ist etwas, das in allen Menschen angelegt ist.“
Man muss jedoch auch ehrlich eingestehen, dass Südafrika noch immer großen gesellschaftlichen Unterschieden und somit sozialen Spannungen unterlegen ist. Die Schere zwischen Arm und Reich ist nach wie vor immens. Auch Kriminalität und Korruption sind bislang ungelöste Probleme.
Die Apartheid und Ubuntu
Trotz alledem wäre es falsch zu behaupten, dass Ubuntu nicht existent sei. Bestes Beispiel hierfür ist der relativ gewaltfreie Übergang hin zu einer Demokratie. Als die Apartheid 1994 ihr Ende fand, fürchtete die Welt ein Blutbad der Rache, welches jedoch ausblieb. Stattdessen war die schwarze Bevölkerung, welche jahrelang unterdrückt und diskriminiert wurde, bereit zur Vergebung und reichte der weißen Minderheit die Hand. Viele sehen in dieser Bereitschaft zur friedlichen Koexistenz ein authentisches Zeugnis für die ethische Haltung gemäß des Ubuntu.
Auch mit Blick auf mein Studium an der hiesigen theologischen Fakultät kann ich bestätigen, dass ich die beschriebenen Wertvorstellungen des Ubuntu in den verschiedenartigen Begegnungen mit meinen Kommilitonen und Professoren wiederentdecken kann. Der kollektive Zusammenhalt sowie die Fürsorge füreinander stechen deutlich hervor im Vergleich zu unserem doch eher individualistisch geprägten europäischen Lebensstil. Als ich vor einiger Zeit meinen Professor für Afrikanische Theologie auf die Vorstellungen von Ubuntu ansprach erklärte er mir: „Ubuntu ist mehr als nur Anteilnahme am Leben meines Nächsten. Vielmehr identifiziere ich mich mit meinem Gegenüber. Dein Schmerz wird zu meinem Schmerz und deine Freude wird zu meiner Freude. Ich leide mit dir mit und ich lache mit dir mit.“
Ein einfaches, aber dennoch eindrucksvolles Beispiel für das ethische Selbstverständnis der Südafrikaner zeigte sich mir eines morgens, als ein mir unbekannter Student vor der Fakultät mit seinem Motorrad wegrutschte und stürzte. Er fuhr nur Schrittgeschwindigkeit und schlug somit nicht hart auf. Und dennoch kamen sofort ein Dutzend Studenten aus allen Richtungen angerannt um sicherzustellen, dass es ihm gut ging. Diesen beherzten und direkten Einsatz empfand ich als bemerkenswert, vor allem als ich sah, wie die jungen Leute zusammenarbeiteten. Eine Person half dem Jungen beim Aufstehen und Abnehmen seines Helmes, einige andere richteten gemeinsam das Motorrad wieder auf, wieder andere sammelten die Habseligkeiten des zu Boden Gegangenen auf und gaben sie ihm zurück. Wir standen schließlich in einem Kreis und unterhielten uns noch kurz mit dem Jungen, der sich sehr dankbar über diese Unterstützung zeigte und gingen anschließend wieder unseres Weges. Diese kleine Episode spiegelt meines Erachtens den solidarischen Umgang der Menschen hier sehr bildhaft wider.