Frage: Welche traumatischen Erlebnisse haben die Flüchtlinge hinter sich?
Krämer: Es sind viele schlimme Erfahrungen, die die Menschen gemacht haben. Sie mussten vor oder während der Flucht zum Beispiel Plünderungen, Vergewaltigungen oder Morde mit ansehen, ihre Ernten wurden vernichtet. Auch in den Lagern bricht immer wieder psychische und physische Gewalt aus. Deshalb ist eine ganzheitliche Seelsorge so wichtig. Seelsorger und kirchliche Mitarbeiter arbeiten mit den Betroffenen ihre Erfahrungen auf, geben ihnen neue Perspektiven.
Bisher stand für diese Arbeit nur eine provisorisch errichtete Kirche zur Verfügung, in der ich im Januar war. Wir bauen jetzt in dem Flüchtlingslager mit unserem Projektpartner zwei feste Kirchen, die für Gottesdienst, Katechese, als Versammlungsort und für die Betreuung der Flüchtlinge genutzt werden können.
Frage: Zuletzt hat der Friedensschluss zwischen Äthiopien und Eritrea international für Schlagzeilen und neue Hoffnung gesorgt. Was meinen Sie: Wird dieser Friede von Dauer sein?
Krämer: Nun, von vielen Seiten wird die Entwicklung mit Skepsis beobachtet. Wenn man bedenkt, dass zwischen beiden Staaten ein jahrzehntelanger Bruderkrieg tobte, der im Jahr 2000 nur äußerlich zum Stillstand kam, kann man die Skepsis verstehen. Denn zwischen beiden Ländern herrschte ja eine Art Kalter Krieg. Familien waren über die Grenzen hinweg getrennt, die Menschen konnten sich nicht besuchen, es gab keine diplomatischen Beziehungen. Bei uns und unseren Partnern überwiegt dennoch die Hoffnung, dass ein neuer Anfang gemacht wurde, aus dem etwas Gutes entstehen kann. Die Kirche als profilierter zivilgesellschaftlicher Akteur in beiden Staaten kann ein Motor der Verständigung und Versöhnung werden.
Frage: Trotz des Friedens mit Eritrea nehmen die Konflikte im Vielvölkerstaat Äthiopien kein Ende. Vor kurzem gab es im Osten des Landes eine neue Welle der Gewalt. Was wissen Sie darüber?
Krämer: Es ist für uns nicht ganz leicht, das einzuschätzen, weil wir gerade in dieser Region relativ wenige Projekte haben. Der Informationsfluss ist eingeschränkt. Der Apostolische Vikar von Harar, Angelo Pagano, berichtet immer wieder von starken ethnischen Konflikten und separatistischen Kräften in der Gegend. Er hat auch Informationen über die Zerstörung orthodoxer Kirchen sowie über mehrere tote und verletzte Christen bei Auseinandersetzungen in jüngster Zeit. Die Lage ist also besorgniserregend. Eine genaue Einschätzung bleibt jedoch schwierig.
Frage: Trauen Sie dem neuen Premierminister Abiy Ahmed zu, sich vom autoritären Kurs der vergangenen Jahre zu verabschieden und für eine Öffnung des Landes zu sorgen?
Krämer: Der neue Premier ist ein Hoffnungsträger – ein junger, unverbrauchter Politiker. Verhaftete Oppositionspolitiker sind freigekommen, er geht auf Eritrea zu. Gleichwohl gehört er der Einheitspartei an, die schon seit 1991 herrscht und Äthiopien zu einem autoritären Staat gemacht hat. Deshalb sollte man mit allzu hohen Erwartungen vorsichtig sein. Die Äthiopier hoffen auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse. Vor allem die Jugend, die 65 Prozent der Bevölkerung ausmacht, braucht Arbeitsplätze. Auch die Korruptionsbekämpfung ist ein großes Thema.