Frage: Auf dem Katholikentag berichteten viele internationale Gäste von den Konflikten, Menschenrechtsverletzungen und Krisen in ihren Heimatländern. Ist das auch für Sie persönlich eine Bestätigung, dass Sie nach der verpassten Wahl in den Bundestag mit der Rückkehr in eine kirchliche Organisation, die Frieden und Entwicklung fördert, zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind?
Lücking-Michel: Der Bezug zur Entwicklungspolitik begleitet mich bereits mein Leben lang, ganz im Sinne auch des Hirtenworts der deutschen Bischöfe: „Wir werden keinen gerechten Frieden auf der Erde haben, wenn wir nicht auch für Gerechtigkeit sorgen.“ Und da haben wir alle einen großen Auftrag. Die Kirche steht dafür mit den vielen entwicklungspolitischen Organisationen und Initiativen. Wir haben allein sechs große Hilfswerke und viele Verbände und Vereine, die sich dabei engagieren. Ein sehr wichtiger ist die AGEH, die besonders die personelle Entwicklungszusammenarbeit fördert. Beim Katholikentag wurde mir noch mal vor Augen geführt, dass ich hier an einer wichtigen Stelle bin. Jeder weiß, dass ich letztes Jahr Wahlkampf gemacht habe und eigentlich wieder zurück in den Bundestag wollte, aber hier bin ich sicherlich an einer Stelle, wo ich große Verantwortung trage für ein wichtiges Anliegen.
Frage: Sie haben während des Studiums ein Jahr in Jerusalem an der Dormitio-Abtei verbracht. Zur AGEH gehört auch der Zivile Friedensdienst (ZFD), der ebenfalls in Israel aktiv ist. Wie wichtig ist die Friedensverantwortung der katholischen Kirche angesichts der aktuellen Konfliktlage?
Lücking-Michel: Die Kirche hat dort die gleiche Verantwortung wie an anderen Orten, wo Konflikte über Jahrzehnte nicht zur Ruhe kommen. Sie ist Anwältin derer, die entrechtet sind, die zu kurz kommen und keine eigenen Chancen haben. Sie ist zugleich unbedingt diejenige, die auf Gewaltlosigkeit setzt und darauf pocht, dass Konflikte im Gespräch gelöst werden. Konkret haben wir mehrere Fachkräfte, die über die AGEH im Land sind. Ihre Ansätze zeigen beispielhaft, wie das konkret gehen kann. Wir haben eine Fachkraft, die mit ehemaligen israelischen Soldaten arbeitet, die aussteigen und sagen: „Wir wollen diese Konflikte nicht mehr mit Gewalt schüren, sondern einen anderen Weg suchen.“ Wir haben eine Fachkraft, die bereits in den Kindergärten und Schulen ansetzt, damit sich Israelis und Palästinenser kennenlernen als Mitschüler und Nachbarn. Des Weiteren haben wir eine Mitarbeiterin, die in der Rechtsberatung ist und sich der Frage widmet, wie mit palästinensischen Landrechten in Israel umgegangen wird. Auch das mag ein Beitrag zur Friedenslösung sein.
Frage: Was haben Sie aus Ihrer Zeit in der Bildungsabteilung bei Misereor mitgenommen für Ihre künftige Arbeit bei der AGEH?
Lücking-Michel: Ich fand es sehr gut, dass bei Misereor schon von Beginn an klar war, dass entwicklungspolitische Arbeit immer auch an unser Leben in Deutschland gekoppelt sein muss. Wir müssen auch hier unseren Lebensstil, unsere Politik, unsere Bereitschaft, uns auf die Fragen globaler Gerechtigkeit einzulassen, ändern. Insofern ist entwicklungspolitische Bildungsarbeit kein nettes Beiwerk, sondern gehört zentral zum Auftrag von Misereor. Das ist ein Gedanke, der mich nie wieder losgelassen hat. Wir müssen begreifen, dass wir eine globale Solidaritäts- und Lerngemeinschaft sind. Den intensiven Austausch, den unsere AGEH-Berater und -Fachkräfte in den Ländern des Südens mit den Menschen haben, hätte ich umgekehrt auch gerne hier in Deutschland. Also nicht nur vom Norden in den Süden, sondern ergänzend vom Süden Richtung Norden und auf Dauer auch in einem großen Süd-Süd-Austausch.