Nigeria zwischen Gewalt, Politik und Glauben
Bonn ‐ Terror, Armut, politische Spannungen – und gleichzeitig beeindruckende Friedensinitiativen: Eine neue DBK-Arbeitshilfe zeigt, wie und warum die Religionsfreiheit in Nigeria unter Druck steht – und wo Hoffnung wächst.
Aktualisiert: 03.12.2025
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Mit ihrer neuen Arbeitshilfe zur Lage bedrängter Christen rückt die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) die politische und religiöse Freiheit in Nigeria ins Zentrum der Aurmerksamkeit. Das westafrikanische Land, Heimat von mehr als 230 Millionen Menschen, gilt seit langem als geopolitischer und religiöser Spannungsraum – ein Land „zwischen Glauben und Gewalt“. Das nun veröffentlichte Dokument zeigt: Die Dynamik religiös motivierter Verfolgung lässt sich nicht isoliert betrachten. Sie ist eingebettet in ein komplexes Geflecht aus politischem Versagen, ökonomischer Not, ethnischen Spannungen und extremistischen Bewegungen.
Die Arbeitshilfe kommt in einer bewegten Zeit: In den vergangenen Wochen hat sich die Gewalt in dem Land weiter verschärft. Am 21. November waren aus der katholischen St. Mary's School in Papiri 303 Schüler und zwölf Lehrkräfte entführt worden. Der deutsche Weltkirche-Bischof Bertram Meier (Augsburg) kritisierte bei der Vorstellung des Dokuments auch die internationale Gemeinschaft. Zwar sei bei der Lösung der mannigfaltigfachen Probleme an erster Stelle die nigerianische Regierung gefordert, doch auch die internationale Gemeinschaft sei in den zurückliegenden Jahren zu wenig aktiv gewesen. Er wünsche sich, dass auch Deutschland seine Anstrengungen zur Stabilisierung Nigerias verstärke, so Meier.
Das DBK-Dokument zeichnet Nigeria dabei als „unfertigen Staat“, dessen Verfassungsversprechen von Religionsfreiheit zwar auf dem Papier besteht, in der Realität jedoch von strukturellen Brüchen und politischer Instrumentalisierung unterlaufen wird. Während die Religionslandschaft formal pluralistisch ist, wird Religion im Alltag zur Identitätsfrage – für Christen wie für Muslime. Die regionale Verteilung religiöser Traditionen entspricht alten kolonialen Trennlinien: ein weitgehend muslimischer Norden und ein vorwiegend christlich geprägter Süden.
Die Gewalt hat viele Ursachen
Gerade im Norden jedoch fühlen sich viele Christen systematisch benachteiligt: Sie berichten von erschwertem Zugang zu Land für Kirchengemeinden, politischer Ausgrenzung, restriktiver Rechtsprechung und sporadischer Lynchjustiz nach Blasphemievorwürfen. Die Einführung der Scharia in zwölf Bundesstaaten ab 1999 verstärkte diese Spannungen, obwohl sie formal nur für Muslime gilt.
Die Autorinnen und Autoren der Arbeitshilfe arbeiten die vielen Ursachen der anhaltenden Gewalt in Nigeria heraus, die teilweise bis in die Kolonialzeit zurückreichen. Die schwer bewaffneten Gruppen Boko Haram und die Abspaltung ISWAP bleiben zentrale Akteure im Nordosten des Landes. „Die Islamisten nahmen zwar gezielt Christen ins Visier – zahlreiche Menschen starben bei Anschlägen auf Kirchen, ganze Dorfgemeinschaften wurden ausgelöscht –, der Terror wendete sich jedoch genauso gegen Muslime“, schreibt Bettina Tiburzy im Einführungstext. Seit 2009 wurden mehr als 43.000 Menschen getötet und Millionen vertrieben.
Besonders eindrücklich dokumentiert die Arbeitshilfe die Konflikte zwischen nomadischen Fulani-Hirten und sesshaften Bauern. Was in internationalen Medien häufig als „Glaubenskrieg“ verengt wird, entpuppt sich in der Analyse als klassischer Ressourcenkrieg – befeuert durch Klimawandel, demografischen Druck, historische Landrechtsbrüche und Desinformation in sozialen Medien
Die Arbeitshilfe zeigt: Wer Boko Haram und andere extremistische Gruppen verstehen will, muss Armut und soziale Ungleichheit in den Blick nehmen. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt im Norden bei über 50 Prozent; 65 Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze. Religiöse Radikalisierung ist daher kein rein religiöses Problem, sondern auch ein sozioökonomisches. Extremistische Gruppen versprechen jungen Männern Geld, Zugehörigkeit und eine scheinbare Zukunft. Mögliche Auswege aus dieser aktuellen Situation müssen daher die Entwicklung entsprechender Perspektiven enhalten.
Friedensressource und Konfliktfaktor
Umso wichtiger bleibt dabei die Rolle der Frauen. Während sie von Entführungen, Vertreibungen und Gewalt besonders betroffen sind, agieren Frauen zugleich als zentrale Friedensstifterinnen – etwa im Women’s Interfaith Council, der mehr als 12.000 Christinnen und Musliminnen vernetzt. Sie vermitteln in Konflikten, halten soziale Strukturen zusammen und engagieren sich in humanitärer Hilfe. Ihre Beteiligung an Friedensprozessen macht deren gelingen wahrscheinlicher. Doch ihre Sichtbarkeit im öffentlichen Leben ist insbesondere im Norden des Landes schwächer ausgeprägt.
„Obwohl Nigeria schon starke Politikerinnen, Aktivistinnen und Unternehmerinnen hervorgebracht hat, sehen sich Frauen immer noch mit patriarchalen Regeln, Mobbing, Gewalt und sogar Todesgefahr konfrontiert“, erzählt beispielhaft Schwester Veronica Onyeanisi, Geschäftsführerin des Women’s Interfaith Council.
Daneben enthält die Arbeitshilfe ein Plädoyer für die fundamentale Stärkung der psychischen Gesundheitsversorgung und für ein seelsorgliches Verständnis, das die Realität traumatisierter Gesellschaften ernst nimmt. „Viele Menschen in Nigeria sind kaum noch in der Lage, die vielfältigen traumatischen Ereignisse psychisch und emotional zu bewältigen“, schreibt Father George Ehusani, geschäftsführender Direktor der Lux Terra Leadership Foundation. Selbstkritisch räumt er ein: Auch die Verantwortlichen der katholischen Kirche hätten vielleicht umfassender auf die sich zuspitzende Krise reagieren müssen.
Ein roter Faden der Publikation: Religion ist in Nigeria gleichzeitig einer unter vielen Konfliktfaktoren – und Friedensressource. Erzbischof Ignatius Kaigama von Abuja bringt das auf den Punkt: „Viele davon gehen auf eine ‚Politisierung der Religion‘ und eine ‚Religionisierung der Politik‘ zurück. Um politische Macht zu gewinnen oder zu erhalten, setzen manche Politiker auf die Religion, weil sie sich davon mehr Wählerstimmen versprechen.“
Umso wichtiger sind daher Initiativen wie der Interreligiöse Rat NIREC, lokale Dialoginitiativen und viele andere Einrichtungen. Sie zeigen das Potenzial religiöser Akteure, Eskalationen zu verhindern, Vertrauen aufzubauen und politische Manipulation zu entlarven.
Licht am Ende des Tunnels
Die neue Arbeitshilfe liefert keine einfachen Erklärungen für die Lage der Religionsfreiheit in Nigeria. Vielmehr zeichnet sie ein Bild einer Gesellschaft, die von vielen Seiten gleichzeitig unter Druck steht – durch Terror, Armut, politische Manipulation, ethnische Spaltungen und den Klimawandel. Die Situation der Christen ist Teil eines ganzen Straußes an Problemen, die das Land insgesamt lähmen. Gemein ist allen Beiträgen die Botschaft, dass ohne gute Regierungsführung und einen funktionierenden Rechtsstaat die Lage (nicht nur, aber auch) für Christen prekär bleibt.
Gleichzeitig wird in dem Dokument der Blick auf Hoffnungszeichen gelenkt: lokale und überregionale Dialoginitiativen, den unermüdlichen Einsatz vieler religiöser Gemeinschaften, Empowerment-Programme, internationale Kooperationen und, wie die geschäftsführende Direktorin der Cardinal Onaiyekan Foundation for Peace, Schwester Agatha Chikelue DMMM betont, eine nigerianische Jugend, die über ein enormes Potenzial verfügt, das eingesetzt werden kann, um einen positiven Wandel herbeizuführen.
Hervorzuheben ist, dass ein großer Teil der Beiträge von fachkundigen Menschen aus Nigeria verfasst wurde, die Tag für Tag an einer Verbesserung der Situation in ihrem Land arbeiten. Und das offenbar erfolgreich, wie Erzbischof Kaigama feststellt: „Es ist festzustellen, dass die ‚religiösen‘ Krisen der vergangenen Jahre deutlich abgenommen haben. Mit anderen Worten: Das Licht am Ende des Tunnels ist schon zu sehen.“
weltkirche.de/dr
Arbeitshilfe herunterladen
Solidarität mit verfolgten und bedrängten Christen in unserer Zeit: Nigeria. Arbeitshilfen 347. 24 Seiten. 2025.
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https://www.dbk-shop.de/de/publikationen/arbeitshilfen/solidaritaet-verfolgten-bedraengten-christen-unserer-zeit-nigeria2
Gebetstag für verfolgte und bedrängte Christen
An jedem 26. Dezember begeht die katholische Kirche in Deutschland den Gebetstag für verfolgte und bedrängte Christen. 2026 ist Nigeria das Beispielland.
Mehr Infos:
https://www.dbk.de/themen/solidaritaet-mit-verfolgten-und-bedraengten-christen/gebetstag
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