Türkische Flagge aus Halbmond und Stern vor kunstvoll verzierten Fliesen
Kritiker sehen neuen Vorstoß zur Islamisierung der Gesellschaft

Krach um staatliche Freitagspredigten in der Türkei

Istanbul  ‐ Die einst von Staatsgründer Atatürk geschaffene Religionsbehörde Diyanet galt als Garant für eine säkulare Türkei. Doch unter Präsident Erdogan wurde sie Speerspitze der Islamisierung. Dessen Partei legt nun nach.

Erstellt: 21.08.2025
Aktualisiert: 03.09.2025
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Von Bettina Dittenberger (KNA)

In der Türkei ist eine heftige Kontroverse um das mächtige Religionsamt entbrannt. Die staatliche Behörde Diyanet lässt Freitagsgebet in den türkischen Moscheen zunehmend strenge und konservative Auslegungen des Islam verkünden. Mit einem Aufschrei reagierten Frauenrechtlerinnen und säkularistische Verbände auf die jüngste Predigt, in der die Diyanet dazu aufrief, das Erbrecht von Frauen einzuschränken.

Kurz zuvor hatte das Amt bereits die Verhüllung der Frauen gefordert und Strandurlaub als sündhaft verurteilt. Kritiker sehen dahinter einen Vorstoß der konservativ-islamischen Regierung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zu einer verstärkten Islamisierung der Gesellschaft; Regierungsanhänger verteidigen die Vorgaben der Diyanet mit Verweis auf die Religionsfreiheit.

„Eine Änderung der von unserem allmächtigen Herrn festgelegten Erbteilung ohne gegenseitige Zustimmung widerspricht der göttlichen Gerechtigkeit“, hieß es in der jüngsten Freitagspredigt, die in den 90.000 Moscheen der Türkei verlesen wurde. „Eine Verletzung der Menschenrechte ist es daher, den Töchtern ihr Erbe vorzuenthalten oder sie mit dem von Gott verliehenen Recht unzufrieden zu machen.“ Anteile nannte die Predigt zwar nicht, doch nach klassischer Lehre des Islam erhalten Frauen nur die Hälfte des Anteils, den Männer erben. Die Predigt wurde in der Öffentlichkeit deshalb so verstanden, dass Frauen sich mit der Hälfte ihres gesetzlichen Erbteils zufrieden geben sollten.

Dies stelle einen Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit und das Prinzip der Säkularismus der Türkischen Republik dar, protestierte der Verein für Modernes Leben, der für die Wahrung der Prinzipien von Staatsgründer Atatürk (1881-1938) eintritt, darunter die Trennung von Staat und Religion und die Gleichberechtigung der Frau. In seiner Erklärung wies der Verein darauf hin, dass das gleiche Erbrecht von Frauen und Männern vom türkischen Zivilgesetzbuch garantiert und im Gleichheitsprinzip der Verfassung sowie in internationalen Konventionen verankert sei, denen die Türkei angehört.

Das gleiche Erbrecht für Frauen sei „ein unveräußerliches Bürgerrecht, das durch keine religiöse oder kulturelle Rechtfertigung eingeschränkt werden kann“. Ähnlich äußerten sich Frauenverbände und zivilgesellschaftliche Organisationen bis hin zur Ärztekammer.

Dagegen erklärte der Vizeparlamentspräsident und frühere Justizminister Bekir Bozdag von Erdogans Regierungspartei AKP, die Aufklärung über islamische Vorschriften, die Ermahnung von Gläubigen und die Erteilung von Ratschlägen durch das Religionsamt sei von der Verfassung gedeckt und stelle keine Einmischung in den Lebensstil der Türken dar. Jedem Bürger stehe es schließlich frei, die Ratschläge das Religionsamtes anzunehmen oder abzulehnen und selbst über sein Handeln zu entscheiden.

Auch liberale Muslime wehren sich

Tatsächlich ist das gleiche Erbrecht von Frauen im türkischen Gesetzbuch wie auch in der Verfassung verankert. Bürgerrechtler befürchten aber, dass Frauen mit Ermunterung des Religionsamtes genötigt werden könnten, nach der gesetzlichen Abwicklung des Erbes nachträglich auf die Hälfte ihres Anteils zu verzichten oder diesen an die männlichen Erben abzutreten. Bestätigt werden sie in ihren Befürchtungen durch Äußerungen von AKP-Politikern wie Oktay Saral, dem Chefberater von Staatspräsident Erdogan. „Der Islam ist keine Religion, die ihr nach Belieben verbiegen und verdrehen könnt, kriegt das mal in eure dicken Schädel!“, entgegnete Saral den Kritikern in den sozialen Medien. „Gottes Urteile gelten bis zum Jüngsten Gericht.“

In vorangegangenen Predigten hatte das Religionsamt in diesem Monat bereits kurze, enge und transparente Kleidung für sündig erklärt und Frauen zur Verschleierung angehalten sowie Urlaub nach westlicher Art als gotteslästerlich verurteilt; statt an den Strand zu fahren sollten die Türken besser ihre Eltern im Dorf besuchen, riet das Amt.

Nicht nur Säkularisten sehen in diesen Predigten einen Versuch des Religionsamtes und der Regierung, einen orthodoxen Islam durchzusetzen. Auch liberale Muslime wehren sich gegen die Bevormundung durch das Amt, dem sie eine versteinerte Auslegung des Korans vorwerfen. Zur Zeit des Propheten Mohammed im 7. Jahrhundert sei es noch revolutionär gewesen, Frauen die Hälfte des Erbes zuzusprechen, merkte der islamische Reformtheologe Ihsan Eliacik an; auch göttliche Gesetze müssten aber ihrer Zeit angepasst werden, zieht er daraus als Lehre.

Das türkische Parlament hatte auf Initiative der Regierung Erdogan kürzlich ein Gesetz beschlossen, das dem staatlichen Religionsamt die Deutungshoheit über den Islam gibt. Demnach hat das Amt nun die Befugnis, alle türkischen Übersetzungen des arabischen Korantextes zu verbieten und zu vernichten, die nicht seiner konservativen und orthodoxen Auslegung entsprechen.

Mit der jüngsten Predigt zum Erbrecht könnte das Amt allerdings zu weit gegangen sein und sich den Ärger der Regierung selbst zugezogen haben, schrieb der geachtete Journalist Fatih Altayli aus seiner Zelle im Gefängnis Silivri, wo er wegen Kritik an Erdogan einsitzt. Schließlich sei der Wählerstamm der AKP zum großen Teil weiblich, bemerkte Altayli - und eine Predigt gegen das Erbrecht von Frauen könnte auch bei diesen Wählerinnen schlecht ankommen.

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