Ein aufgeschlagenes Buch, daneben ein Globus
„Jacaranda“, ein Geschichte zwischen Hass, Freundschaft und Familie

Die Wucht des Völkermords in Ruanda

Bonn  ‐ Ein Blick auf den letzten Genozid des 20. Jahrhunderts in Ruanda durch die Augen eines Unbeteiligten, dessen Leben die Gräueltaten trotzdem prägen. Das bietet Gaël Fayes Roman „Jacaranda“ unaufdringlich wie eindringlich.

Erstellt: 06.09.2025
Aktualisiert: 29.08.2025
Lesedauer: 
Von Katrin Gänsler (KNA)

Eine solche Mutter wünscht sich wohl niemand: Venancia wirkt distanziert, abweisend, unergründlich. Vor allem schweigt sie eisern über ihre Vergangenheit, ihre Familie, ihr Heimatland Ruanda. Das erscheint plötzlich in den abendlichen Fernsehnachrichten, als im April 1994 der Genozid beginnt. Damals wurden innerhalb von 100 Tagen 800.000 Tutsi sowie gemäßigte Hutu ermordet. Die internationale Gemeinschaft schaute zu und griff nicht ein.

Venancias zwölfjähriger Sohn Milan – Protagonist in Gaël Fayes Roman „Jacaranda“ – hat mit einem Mal ein Bild von dem unbekannten Land. Lebendig wird es, als eines Abends im Haus der Familie, die in Versailles bei Paris lebt, Claude auftaucht: ein kleiner magerer Junge mit Kopfverband, der nur Kinyarwanda spricht und nachts von schlimmen Alpträumen geplagt wird. Milan freut sich, endlich einen kleinen Bruder zu haben, den er beschützen kann. Doch so unerwartet wie Claude – so alt wie Milan selbst und tatsächlich sein Onkel – kommt, ist er wieder verschwunden. Milans Trauer und Forderungen nach einer Erklärung sind seiner Mutter Venancia vor allem lästig.

Ausgerechnet sie bietet Milan vier Jahre später die Gelegenheit, nach Ruanda zu reisen, weil sie eine Familienangelegenheit regeln muss. Milan trifft Claude wieder, lernt seine ebenfalls schweigsame Großmutter kennen, den undurchsichtigen Satre, der in der Hauptstadt Kigali den Waisen des Völkermords Unterschlupf und Halt gibt. Milan trifft auf die alte Rosalie, Tante Eusébie, die eine Kindheitsfreundin ihrer Mutter ist, und deren Tochter Stella, die später im prächtig lila blühenden Jacaranda-Baum Schutz suchen wird.

Milan macht sich auf die Suche nach der Vergangenheit seiner Familie. Es ist mühsam und zäh, das Familien-Puzzle zusammenzusetzen. Es braucht viele Anläufe, Reisen nach Ruanda und den Entschluss, nicht nach Frankreich zurückzukehren. Der Roman spannt sich über knapp drei Jahrzehnte.

Ein unaufdringlich eindringlicher Roman

Ruanda gilt als vorbildlich in der Aufarbeitung des letzten Genozids im 20. Jahrhundert. Weniger schwere Verbrechen wurden von den traditionellen Gacaca-Gerichten verfolgt, was lange Wartezeiten ersparte und Teilhabe ermöglichte. Längst ist der tödliche Zusatz in den Pässen zur ethnischen Zugehörigkeit getilgt. Vor allem junge Menschen erwähnen nicht, ob sie Hutu oder Tutsi sind. Sie sind eins: Ruander. Zwischen April und Juni gibt es jährlich Gedenkveranstaltungen, dann trägt ein ganzes Land Trauer.

Trotzdem wird das meiste nicht gesagt, verdrängt oder verschwiegen. Diese blinden Flecken gibt es ebenso in Milans Familiengeschichte. Er erlebt, wie sehr die Verbrechen nachwirken, welchen Einfluss sie bis heute haben und wie viel Misstrauen sie in die Gesellschaft gebracht haben.

Seine Perspektive – die eines Fragenden, Ratlosen, Suchenden, der die Gräueltaten nicht persönlich miterlebt hat, – scheint zunächst die Wucht des Genozids abzuschwächen. Gemeinsam mit Milan öffnet man scheinbar eine Tür und nimmt eine Zuschauer-Perspektive ein. Doch immer wieder schlägt die Brutalität mit höchst präziser, kaum aushaltbar nüchterner Sprache zu, etwa dann, wenn Stella die Lebensgeschichte ihrer Urgroßmutter Rosalie erzählt. In ihrem langen Leben musste sie ihren Mann, Kinder, Enkel und Urenkel begraben und erlebte schon lange vor 1994 Hetze und Vertreibung der Tutsi. Der Völkermord hat schließlich eine lange Vorgeschichte.

Doch „Jacaranda“ ist längst nicht nur ein düsterer Roman, sondern auch eine Geschichte von zufälligen Begegnungen, aus denen lebenslange Freundschaften werden. Dabei gelingt es Faye, Sohn einer Ruanderin und eines Franzosen, der mit 13 Jahren das ebenfalls vom Krieg betroffene Nachbarland Burundi verlassen musste, nie kitschig zu werden. Er bleibt nüchtern und klar.

Schon Fayes 2017 erschienenes Debüt „Kleines Land“ wurde zu einem großen Erfolg. Für seinen zweiten Roman erhielt Faye, der auch als Rapper bekannt ist und heute in Kigali lebt, 2024 bereits den renommierten Prix Renaudot. „Jacaranda“ ist ein unaufdringlich eindringlicher Roman zu aktuellen zentralen Fragen. Und er zeigt, wie wichtig die Geschichte für die Gegenwart ist.

Informationen zum Buch

Gaël Faye: Jacaranda. 272 Seiten. EAN 978-3-492-07397-4. Übersetzt von Andrea Alvermann und Brigitte Große. Piper-Verlag München 2025.

Mehr zum Thema