Papst Johannes Paul II. (l.) und Kardinal Joseph Ratzinger, Erzbischof von München und Freising, fahren am 19. November 1980 mit dem Papamobil durch München.
Ratzingers harte Kante gegen Lateinamerikas Revolutionsprediger

Vor 40 Jahren kam aus Rom ein Nein zur Befreiungstheologie

Vatikanstadt  ‐ Dürfen Theologen sich für eine evtl. gewaltsame Revolution einsetzen, um Unterdrückten zu ihrem Recht zu verhelfen? Vor Jahrzehnten wurde das heiß diskutiert. Dann griff der Vatikan ein: Kardinal Ratzinger sollte das klären.

Erstellt: 05.08.2024
Aktualisiert: 27.08.2024
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Von Ludwig Ring-Eifel (KNA)

Selten hat ein theologisches Dokument aus dem Vatikan so viel Wirbel gemacht wie die „Instruktion über einige Aspekte der Theologie der Befreiung“ im August 1984. Seit der Wahl des polnischen Kardinals Karol Wojtyla zum Papst fünf Jahre zuvor waren nie wieder so viele Presseleute und Kamerateams in den Vatikan gekommen, um zu berichten. Teile des Dokuments waren einige Tage vorab über brasilianische Medien geleakt worden, die Spannung war enorm.

Wollte sich wirklich der Vatikan, wie es vorab hieß, frontal mit der Befreiungstheologie in Lateinamerika anlegen? Würde der deutsche Kardinal Joseph Ratzinger, seit zwei Jahren Präfekt der Römischen Glaubenskongregation, die auch in Europa verehrten Stars der linken Theologie wie Gustavo Gutierrez (Peru), die Gebrüder Boff (Brasilien) oder Ernesto Cardenal (Nicaragua) mit Kirchenstrafen belegen?

Es war die Zeit der Revolutionen, Militärputschs und Bürgerkriege in Lateinamerika. 20 Jahre nach Fidel Castros Machtübernahme in Kuba hatten 1979 die Sandinisten die linke Revolution in Nicaragua mit Unterstützung aus dem Ostblock erfolgreich durchgezogen. In anderen Ländern wie El Salvador oder Kolumbien kämpften marxistisch inspirierte Guerilla-Bewegungen gegen die jeweiligen Machthaber, die ihrerseits von den USA unterstützt wurden. Und mittendrin immer wieder Priester und Theologen. Einige griffen im „Volksbefreiungskampf“ selbst zur Waffe, und viele unterstützten mit Predigten und theologischen Schriften die linken Kämpfer ideologisch.

Zugleich war es eine Zeit, in der an manchen Universitäten Europas der Marxismus eine dominierende Stellung einnahm. Mit dem Anspruch, eine alles andere überwölbende wissenschaftliche Theorie zu vertreten, hatten sich nach 1968 marxistisch inspirierte Studenten und Dozenten in fast allen geisteswissenschaftlichen Fachbereichen breitgemacht. Selbst Historiker und Juristen mussten sich mit dem Anspruch auseinandersetzen, dass die Wahrheit immer vom „Klassenstandpunkt“ abhänge. Auch in der Theologie gab es solche Ansätze. Eine Hochburg war die belgische Universität Löwen, wo der brasilianische Theologe Clodovis Boff Ende der 1970er Jahre eine mit marxistischen Versatzstücken arbeitende „Theologie des Politischen“ entwickelte.

In der polnischen Heimat von Papst Johannes Paul II. waren die Verhältnisse genau umgekehrt: Dort regierten Kommunisten seit Jahrzehnten und waren gerade damit beschäftigt, den stärker werdenden Widerstand gegen ihre Diktatur gewaltsam niederzuwerfen. Auch in Polen wurde der Widerstand von Kirchenmännern unterstützt – allerdings nicht mit marxistischer Ideologie, sondern stramm dagegen.

Für den polnischen Papst war die Lage nicht einfach. Auf der einen Seite hegte er durchaus Sympathien für lateinamerikanische Oppositionsbewegungen - von rechtlosen Landarbeitern oder von Menschenrechtlern gegen Militärdiktaturen. Bei der Versammlung der lateinamerikanischen Bischöfe in Puebla hatte er erst drei Jahre zuvor die Linie der „Option für die Armen“ unterstützt.

Andererseits hatte er erlebt, dass marxistische Revolutionen immer wieder in Diktaturen führten – ganz gleich ob in Osteuropa oder in Kuba. Und so beauftragte er seinen neuen deutschen Vordenker Joseph Ratzinger damit, einen philosophisch-theologischen Generalangriff auf die sich abzeichnende Verschmelzung von marxistischen und befreiungstheologischen Theorien zu führen.

Als Drohung und Kampfansage verstanden

Im ersten Schritt sollte er darlegen, warum der Marxismus wegen seines einseitigen Menschenbildes und wegen seines parteiischen Wahrheitsbegriffs mit dem christlichen Glauben unvereinbar sei. Danach sollte er in einem zweiten Schritt die Grundlagen einer kirchlichen, nicht-marxistischen Theologie der Befreiung entwickeln.

Ratzinger, mit 57 Jahren auf dem Höhepunkt seiner geistigen Schaffenskraft, nahm die Herausforderung an und verfasste die „Instruktion über einige Aspekte der Theologie der Befreiung“. Das Ergebnis war eine inhaltlich dichte Absage an alle Strömungen der Befreiungstheologie, die sich offen oder implizit an marxistischen Analysen und Utopien orientierten. Mit seiner polemischen Schärfe und glasklaren Härte begründete der Text den Ruf Ratzingers als „Panzer-Kardinal“.

Doch achtete er darauf, nicht die Idee einer Theologie der Befreiung an sich zu verurteilen. Der Text beginnt mit den Sätzen: „Das Evangelium Jesu Christi ist eine Botschaft der Freiheit und eine Kraft der Befreiung. Diese grundlegende Wahrheit haben Theologen in den letzten Jahren zum Gegenstand der Überlegung gemacht, verbunden mit einer neuen Aufmerksamkeit, die in sich selbst reich an Hoffnungen ist.“

Dann folgt die Abgrenzung: „Angesichts der Dringlichkeit der Probleme sind manche versucht, den Akzent einseitig auf die Befreiung von der Versklavung auf irdischem und weltlichem Gebiet zu setzen (...) In der Absicht, die Ursachen der Versklavung, die sie beseitigen wollen, genau zu erkennen, bedienen (sie) sich (...) ohne hinreichend kritische Vorsicht eines geistigen Instrumentariums, das nur sehr schwer, vielleicht überhaupt nicht, von ideologischen Vorstellungen gereinigt werden kann, die mit dem christlichen Glauben und den daraus folgenden ethischen Forderungen unvereinbar sind.“

Das zielte klar auf den Marxismus: „Die vorliegende Instruktion hat ein sehr präzises und begrenztes Ziel: Sie will die Aufmerksamkeit der Hirten, Theologen und aller Gläubigen auf die Abweichungen und die Gefahren der Abweichung lenken, die den Glauben und das christliche Leben zerstören, wie sie gewisse Formen der Theologie der Befreiung enthalten, die in ungenügend kritischer Weise ihre Zuflucht zu Konzepten nehmen, die von verschiedenen Strömungen des marxistischen Denkens gespeist sind.“

Und weiter: „Diese Gesamtkonzeption besticht in ihrer Logik und treibt die ‚Theologien der Befreiung‘ an, eine Summe von Positionen zu übernehmen, die mit dem christlichen Menschenbild unvereinbar sind.“ Danach gibt Ratzinger eine Art Kurzfassung des marxistischen Denkens, das in dem Satz gipfelt: „Der Klassenkampf wird als ein objektives, notwendiges Gesetz dargestellt. Indem man in diesen Prozess aufseiten der Unterdrückten eintritt, 'tut' man die Wahrheit, handelt man 'wissenschaftlich'. Folglich geht diese Auffassung von der Wahrheit mit der Behauptung der Notwendigkeit von Gewalt Hand in Hand (...).“

Das etwa 30 Seiten lange Papier endet mit Empfehlungen an die Bischöfe, darauf zu achten, dass die gefährlichen Lehren der Befreiungstheologie nicht unkritisch an der Basis übernommen werden. Stattdessen sollten sie die Verbreitung der katholischen Soziallehre unterstützen.

In den Medien wurde die Instruktion von 1984 vor allem als eine Drohung und eine Kampfansage verstanden. Kurz danach begannen vor der Glaubenskongregation Verfahren gegen einzelne Vertreter der Befreiungstheologie. Der prominenteste unter ihnen war Leonardo Boff, dem jedoch am Ende lediglich ein befristetes „Bußschweigen“ auferlegt wurde. Doch ging es weder bei ihm noch bei anderen Abgestraften um ihr Engagement für die Armen; vielmehr wurden ihnen Abweichungen von der kirchlichen Dogmatik zur Last gelegt.

1986 erfüllte Kardinale Ratzinger den zweiten Teil der vom Papst gestellten Aufgabe und versuchte, in einer weiteren Instruktion, einen konsequent christlichen Entwurf einer Befreiungstheologie ohne marxistische Elemente vorzulegen. Doch obwohl der Text theologisch wegweisende Ideen entfaltete – darunter erstmals eine katholische Theologie der Freiheit - war das Interesse daran deutlich geringer als an der spektakulären Kampfansage zwei Jahre zuvor. Sie ist nicht nur in Lateinamerika bis heute als theologischer Wendepunkt in Erinnerung geblieben. Für die einen gilt sie in der Rückschau als ein Sündenfall Roms, für die anderen als eine notwendige und erfolgreich durchgesetzte Rote Linie.

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