In Vielfalt verbunden
Wenn sich in China eine Hausgemeinde zum Gottesdienst trifft, dann versammelt sie sich um den gleichen Tisch des Herrn wie die Katholiken eines Armenviertels der westafrikanischen Megacity Lagos, Pilgertouristen bei einer Papstmesse im Petersdom, die Basisgemeinde eines abgelegenen Dschungeldorfes in Bolivien oder Gottesdienstbesucher in New York und Düsseldorf. Weltweit richten Christen in Gebet und Liturgie ihren Blick auf Gott und erfahren sich in unterschiedlichsten Kontexten als Gemeinschaft und Kirche.
Aktualisiert: 19.04.2024
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Der Apostel Paulus spricht von der jungen Kirche als dem einen Leib Christi, der sich aus vielen Gliedern zusammensetzt (1 Kor 12). Für die katholische Weltkirche bedeutet das, dass sie Einheit in Vielfalt verwirklicht. So bilden die Ortskirchen in allen Regionen der Erde das Rückgrat einer Gemeinschaft von Glaubenden, deren universalkirchliche Einheit in der Person des Papstes greifbar wird. Die weltweite Präsenz der Kirche und ihre innere Pluralität ist ein lebendiges Zeugnis für die integrative Dynamik des Evangeliums, das sich über ethnische, politische und soziale Grenzen hinweg an alle Menschen richtet.
Gefährdete Identität
„Einheit in Vielfalt“ bleibt ein theologischer Slogan, solange er nicht durch fruchtbare Formen eines weltkirchlichen Dialogs mit Leben gefüllt wird. Denn die innerkirchliche Heterogenität ist nicht einfach nur schön und bunt. Sie stellt eine erhebliche Herausforderung dar.
Gerade die vielfältigen Unterschiede zwischen Arm und Reich, zwischen den alternden Kirchen des Westens und den jungen Kirchen des Südens, zwischen traditionellen, charismatischen, und säkularisierten Formen des Christenseins rufen Spannungen hervor. Karl Rahner spricht von der Gefahr eines „anarchistischen Pluralismus“, der die vielen Einzelperspektiven nicht mehr zusammenbringt. Häufig steht dahinter eine Art Kirchturmmentalität, die sich ganz auf die eigenen Vorstellungen und Gewohnheiten fixiert und dabei andere Lebenskontexte ignoriert. In einer solchen Gemeinschaft bedeutet Vielfalt nicht Reichtum, sondern allenfalls Folklore und schlimmstenfalls Misstrauen und Spaltung. Ein gemeinsames Glaubenszeugnis, wie es Jesus von seinen Jüngern einfordert (vgl. Joh 17,22), ist dann nicht mehr möglich.
„Dort wo es den vielen Ortskirchen gelingt, einander in Liebe zuzuhören, füreinander einzustehen und voneinander zu lernen ist die pilgernde Weltkirche eine Lerngemeinschaft.“
Katholizität als Modus des Lernens
Will die Kirche ein sichtbares Zeichen für Gottes Gegenwart in der Welt sein, kommt es für sie darauf an, den Schatz ihrer eigenen geistigen und spirituellen Vielfalt lernend zu heben. Rahner formuliert eine Faustregel. Das weltkirchliche Zusammenleben soll bestimmt sein durch „liebende Offenheit, das Lernen-wollen vom anderen, das Sich-austauschen mit anderen“. Dieser Modus der Katholizität fügt sich nahtlos an die Charakterisierung der Kirche als pilgerndes Volk Gottes an, wie sie das Zweite Vatikanische Konzil vornimmt. Kirche findet ihre Identität unterwegs: in einer Haltung des Hörens, der Offenheit für die Zeichen der Zeit, des Vertrauens auf Gottes Geist (vgl. GS 4). Dort wo es den vielen Ortskirchen gelingt, einander in Liebe zuzuhören, füreinander einzustehen und voneinander zu lernen ist die pilgernde Weltkirche eine Lerngemeinschaft.
Weltkirchliche Lernformen und Beispiele
Seit das Evangelium im 1. Jh. über die Grenzen Palästinas hinaus verkündet wurde, finden in der Kirche solche geistlichen und interkulturellen Lernprozesse statt: auf Synoden und Konzilien, bei den Reisen christlicher Missionare oder durch Migrationsbewegungen. Dort wo Christen verschiedener Kulturen und Prägungen miteinander in Austausch traten, entstand Raum für weltkirchliches Lernen. Im Zeitalter globaler Vernetzung und Mobilität gibt es hierfür reichlich Gelegenheit. Sieben solcher weltkirchlichen Lerngelegenheiten seien im Folgenden skizziert.
1. Individuelle Lerndialoge
Dort wo einzelne Christen mit Menschen anderer Ortskirchen in Berührung kommen und sich auf deren Kultur und Glauben einlassen, findet oft weltkirchliches Lernen statt. Dies geschieht z. B., wenn junge (und ältere) Erwachsene für ein oder zwei Jahre ins Ausland gehen und dort als Missionarin auf Zeit oder internationaler Freiwilliger in einem Sozial-, Pastoral- oder Bildungsprojekt gemeinsam mit Ordensleuten, engagierten Christen oder Katecheten arbeiten. Auch „Fidei Donum“-Priester , die längere Zeit in einem fremden Land wirken, treten in einen intensiven weltkirchlichen Lerndialog ein. Als Zurückkehrende bereichern sie mit ihren dort gemachten Kultur- und Glaubenserfahrungen häufig auch ihre Heimatkirchen.
2. Weltkirche Events
Die zunehmende Anzahl weltkirchlicher Events, wie die prominenten Weltjugendtage oder Eucharistische Weltkongresse bieten vielfältige Möglichkeiten weltkirchlicher Begegnung.
3. Lernen in Institutionen
Die Kirche bietet innerhalb ihrer Strukturen und Institutionen zahlreiche Möglichkeiten für kontinuierliches weltkirchlichen Lernens. Überregionale Bischofssynoden wie 2012 in Rom, Konzilien, regelmäßige Ad-limina-Besuche der Bischöfe beim Papst, die internationale Zusammensetzung vieler (Missions-)Orden und geistlicher Gemeinschaften sind Gelegenheiten eines regelmäßigen intensiven weltkirchlichen Austauschs.
4. Theologischer Dialog
Auch kirchliche Hochschulen sind mancherorts facettenreiche weltkirchliche Lernorte. Dort studieren Christen verschiedener Herkunft zusammen und bringen ihren ortskirchlichen Kontext in den wissenschaftlichen Diskurs mit ein. In Deutschland wird dieser akademische Austausch durch weltkirchliche Stipendienprogramme, z. B. des KAAD , gezielt gefördert. Nicht zuletzt tragen internationale Tagungen und Kongresse zu einem lebendigen fachtheologischen Dialog zwischen den Ortkirchen bei. Wenn z. B. Benedikt XVI bei der fünften Vollversammlung des CELAM in Brasilien erklärt, dass die Option für die Armen nicht nur die pastorale Entscheidung eines Kontinentes ist, sondern „die bevorzugte Option für die Armen im christologischen Glauben an [...] Gott implizit enthalten“ sei (Aparecida 328), dann zeigt das, wie sehr die lateinamerikanische Theologie der Befreiung in der gesamte Weltkirche weite Kreise gezogen hat.
5. Weltkirchliche Partnerschaften
Besonders in Deutschland ist das Feld der weltkirchlichen Partnerschaftsarbeit weit ausgeprägt. Unzählige Pfarreien, Gruppen, kirchliche Vereine, Ordensgemeinschaften, Bistümer und die kirchlichen Hilfswerke pflegen lebendige Kontakte zu anderen Ortskirchen. In vielen Fällen sind über Jahre und Jahrzehnte vertraute Beziehungen und Freundschaften gewachsen. Neben der wechselseitigen Anteilnahme, der materiellen Unterstützung und dem gemeinsamen Gebet tragen z. B. auch Begegnungsreisen dazu bei. Zum Teil wird Partnerschaftsarbeit auch mit weltkirchlicher Bildungsarbeit verknüpft. Dabei geht oftmals darum, Themen der Weltkirche, Gerechtigkeitsfragen sowie Erfahrungen und Probleme der Partner einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen.
6. Pastorales Lernen
In Deutschland wird mit der vielerorts sichtbaren Krise der traditionellen kirchlichen Pastoral weltkirchliches Lernen verstärkt als pastorale Chance begriffen. Andere Formen christlicher Gemeinschaft, wie sie in anderen Ortskirchen prägen, fungieren dabei zunehmend als Inspirationsquelle und werden ausdrücklich thematisiert. Auf dem Kirche²-Kongress in Hannover wurde z. B. dem in der Kirche Englands laufenden pastoralen Experiment der fresh expressions viel Raum eingeräumt. An der Ruhr-Universität Bochum wurde ein Projekt Crossing Over zur Förderung des pastoralen Dialogs zwischen katholischen Pfarrgemeinden in Deutschland und den USA ins Leben gerufen. Auch das Bibelteilen , Wort-Gottes-Feiern, Laien als Beerdigungsleiter und christliche Basisgemeinden sind längst nicht mehr nur katholischen Christen aus Lateinamerika, Afrika oder Asien ein Begriff. Auf der Suche nach neuen Formen von Kirche in Deutschland werden diese Kirchenformen zunehmend ernst genommen.
Dabei sind es nicht so sehr die pastoralen Konzepte und Organisationsformen, die weltkirchliche Lernprozesse für die Kirche fruchtbar machen. Vor allem ist es die Erfahrung des Heiligen Geistes, der sich in den immer wieder herausfordernden, manchmal anrührenden und oftmals überwältigenden Lernbegegnungen zwischen Christen verschiedener Kulturen und Ortskirchen zeigt.
Stand: Juli 2013
Literatur: Karl Rahner: Ritenstreit. Neue Aufgaben für die Kirche, in: Ders.: Schriften zur Theologie (Bd. 16), Zürich 1984.