Mann trägt Habseligkeiten auf der Flucht in Richtung Panama
Reportage von der Grenze zwischen Kolumbien und Panama

Der Tod als ständiger Begleiter

Membrillo/Essen ‐ Der Darién-Dschungel ist das Nadelöhr des amerikanischen Kontinents. Hier riskieren Migranten ihr Leben. Eine Partnerorganisation des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat hilft den traumatisierten und erschöpften Menschen weiter.

Erstellt: 25.12.2023
Aktualisiert: 21.12.2023
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500 Meter liegen zwischen dem Fluss Membrillo und dem Dorf Canaan. Die Familie González Milla betritt nach zehn Tagen im Dschungel die erste menschliche Siedlung. Ein Triumph: Sie haben soeben den Darién hinter sich gelassen. Der Regenwald zwischen Kolumbien und Panamá wird mit seinen heimtückischen Sümpfen, zerklüfteten Bergen und reißenden Flüssen vielen Migranten zum Verhängnis. Das steile, glitschige Ufer und die brennende Sonne stellen die Familie aus Venezuela vor eine letzte harte Probe, die sie schweigend und stoisch, Schritt für Schritt, bewältigen.

Zwölf Einbäume liegen am Ufer des Membrillo, besetzt mit Migranten aus der ganzen Welt: Der Afghane Mohamed Hamid Asisi flieht vor den Taliban, die Haitianerin Mylaine Richard vor der Anarchie in ihrem Land und den mordenden Banden, der Somali Filsan Hersi vor dem Verhungern. Familie González Milla, auf der Flucht vor Korruption und sozialistischer Mangelwirtschaft in Venezuela, kommt als letzte in der Siedlung an.

Das indigene Dorf Canaan ist für die Migranten die letzte Station im Darien, bevor sie - organisiert vom Grenzschutz / Militär - in das Durchgangslager Metiti kommen.

Ankunft in Canaan

Die 51-jährige Arely hat sich unterwegs den Knöchel verstaucht. Ihr Schwiegersohn Carlos González musste sie eine Woche lang mehr oder weniger durch den Dschungel tragen. Er versank knietief im Schlamm und stürzte mehrfach. Carlos ist nur noch Haut und Knochen, das Gesicht aschfahl. Seine Frau Zurely geht vorweg, den sechsjährigen Sohn Snyder an der Hand. Der dünne Junge braucht einen Arzt, er hat seit Tagen Fieber und Durchfall. Von den 250.000 Migranten, die im Jahr 2022 den Darién durchquerten, waren 35.000 minderjährig.

Nach der Überfahrt hievt César Milla, der hagere 50-jährige Mann von Arely, das nasse Zelt und einen Rucksack aus dem Boot. Er blickt auf die Menschenprozession, die sich nun vor ihm den Hang hochquält. Seine Mine ist ernst. „Der Dschungel ist die Hölle“, sagt er, und wischt sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. „Es ist ein Wunder, dass wir es geschafft haben.“ Denn der Weg führte buchstäblich über Leichen.

Familie González Milla stammt aus Caracas, der Hauptstadt Venezuelas. Arely arbeitete als Pflegerin, César betrieb einen Marktstand, Tochter Zurely war Verkäuferin im größten Einkaufszentrum der Stadt und Schwiegersohn Carlos vertrieb Ersatzteile für Motorräder. Doch die galoppierende Inflation ließ das Einkommen zwischen den Fingern zerrinnen. Die grassierende Kriminalität verbreitete Angst und Schrecken, und die Supermarktregale wurden immer leerer aufgrund der Wirtschaftskrise und der Korruption der sozialistischen Bürokratie. „Das war kein Leben mehr“, erzählt César. „Wir aßen einmal am Tag Reis mit Bohnen oder Linsen.“ Zurely erbettelte auf dem Schwarzmarkt Windeln für Snynder. „Zwei unserer Töchter sind bereits in Costa Rica. Deshalb haben wir alles verkauft und uns auf den Weg zu ihnen gemacht“, so Milla. Allerdings ohne jede Vorstellung, welche Strapazen sie auf der Reise erwarteten.

„Wir hatten nur für fünf Tage im Dschungel Essen dabei“, erzählt Milla. Im Dorf angekommen reibt er sich vor dem Zelt die nackten, schmerzenden Füße. „Ich habe tagelang nur Wasser mit Salz zu mir genommen.“ Zum Hunger kamen die Erschöpfung, die ständige Nässe, die giftigen Schlangen, die weinenden Kinder und die Aasgeier, die über der Gruppe kreisten. 2022 ließen nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen 50 Migranten im Dschungel ihr Leben. Die meisten werden in dem unerschlossenen, schwierigen Gelände nie geborgen.

Vom langen Marsch durch den Darien geschundene Füße eines Migranten

Der harte, lange Weg ist erst der Anfang

„Am dritten Tag brach eine schwangere Haitianerin aus unserer Gruppe zusammen“, sagt Milla. „Aber wir mussten weiter, um noch vor Einbruch der Dunkelheit das nächste Camp zu erreichen.“ Wer nachts in der Dunkelheit läuft, ist wegen der Raubkatzen lebensmüde, hatten die Schlepper gewarnt. Immer wieder stießen sie auf menschliche Überreste. „Ich habe Snyder dann abgelenkt, aber das hat nicht immer geklappt“, seufzt seine Mutter Zurely.

Im Dorf treffen sie auf Elías Cornejo von der Migraten-Organisation Fé y Alegría (Glaube und Freude), die vom Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat unterstützt wird. Er kramt das Medikament für den kleinen Snyder aus seinem Rucksack, zeigt der Familie, wo sie ihr Zelt aufschlagen kann und erklärt, dass sie sich beim Grenzschutz Senafront registrieren müssen, um ins Übergangslager gebracht zu werden. Senafront kooperiert nur ungern mit Hilfsorganisationen, weil sie das rigiden Vorgehen des Grenzschutzes kritisieren. Fé y Alegría wird meistens geduldet, hat aber keine offizielle Genehmigung, permanent humanitäre Hilfe zu leisten. Geflüchtete zu transportieren – selbst wenn es sich um Sterbenskranke handelt – ist strikt verboten. Migration ist für die panamaische Regierung ein Sicherheitsproblem. Durchreisende werden registriert, in umzäunte Lager verfrachtet und dann so schnell wie möglich per Boot und Bus zur costa-ricanischen Grenze gebracht.

Doch nicht alle wollen oder können so schnell Panama verlassen – ihnen steht Cornejo bei. Eine Gruppe von Kubanerinnen und Venezolanern löchert ihn mit Fragen. „Den Grenzbeamten traue ich nicht. Wer weiß, ob sie dich nicht abschieben”, sagt eine Kubanerin. Ihr Misstrauen ist gerechtfertigt. Der UN-Sonderberichterstatter für Flüchtlinge hat 2023 in einem Bericht den Senafront kritisiert. Die Lager des Grenzschutzes seien unhygienisch und prekär, es komme zu sexuellen Übergriffen, Frauen werde ein Busticket im Tausch für sexuelle Dienstleistungen angeboten, und die Migranten seien de facto inhaftiert, da sie das Lager nicht verlassen dürfen, heißt es in dem Bericht.

Cornejo hat schon in anderen Ländern Mittelamerikas gearbeitet. Er kennt die Lage und die Route der Migranten, die Fallstricke, die sicheren Unterkünfte und die rechtlichen Kniffe. „Informationen aus erster Hand und Hilfe bei konkreten Problemen sind das Wertvollste, was wir den Migranten geben können“, sagt er und kramt aus den Tiefen seiner Hosentaschen Bonbons und Kaugummis für die Kinder. Ein Geschenk, mit dem er sogar dem geschwächten Snyder ein Lächeln entlockt. Der Sechsjährige wird gesprächig und erzählt von der Schule, die er in Costa Rica hoffentlich bald besuchen wird. „Meinen Namen kann ich schon schreiben“, sagt er stolz, und verewigt sich mit krakeligen Druckbuchstaben im Notizbuch der Reporterin.

Von Sandra Weiss/Adveniat

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